Integration von Anfang an - Das Projekt WERTvoller Raum
Mittwochnachmittag um halb drei in einer Unterbringungseinrichtung für Geflüchtete in Nordrhein-Westfalen: Der Raum ist viel zu klein für alle Interessenten, dreimal müssen Stühle geholt werden, damit die noch Hinzukommenden auch einen Platz haben. Die Bewohnerinnen wollen mehr erfahren über Deutschland – deutsche Gewohnheiten, deutsche Umgangsformen und deutsche Rechtsgrundlagen.
Fadime und Samuel, zwei Mitarbeiter aus dem Betreuungsteam der Malteser, begrüßen alle in englischer Sprache. Die Übersetzerinnen aus den Reihen der Bewohnerinnen transferieren das „Willkommen“ in Arabisch, Farsi und Somali. „Willkommen zum dritten Gesprächskreis mit den folgenden Themen: Geschlechterrollen, Familienkonzepte, Umgang mit Kindern in Deutschland“. Eine deutsch-englische Präsentation läuft bereits, und gedruckte Unterlagen liegen allen vor. Die Malteser Werke bieten in den von ihnen betreuten Einrichtungen ein Projekt zur Wertevermittlung an, in dem Geflüchtete von geschulten Mitarbeitenden zunächst über Regeln des Zusammenlebens in Deutschland informiert werden, um dann in den Dialog zu treten.
Vermittlung von Informationen
„Sie glauben, dass wir in Deutschland immer schon eine Gleichberechtigung der Geschlechter hatten? Weit gefehlt!“ Anhand einiger Beispiele erklärt Samuel die
Errungenschaft der jüngeren Geschichte.
„Ein Universitätsstudium für Frauen wurde erst im 20. Jahrhundert ermöglicht, und zunächst änderte sich damit das klassische Rollenverständnis nicht: die emotionale Frau als Hausfrau und Mutter, der starke Mann als Ernährer und Beschützer. Noch bis in die 1970er-Jahre hinein war die Ehefrau abhängig von ihrem Mann, der eine Einverständniserklärung unterschreiben musste, damit sie arbeiten gehen konnte.“ Ein Raunen geht durch die Reihen, für einige Teilnehmenden sind das neue Informationen. Samuel fährt fort: „Noch heute kämpfen Frauen auch in Deutschland um eine gleiche Vergütung und Besetzung von Spitzenjobs, noch heute haben sie besondere Herausforderungen im Arbeitsleben als Mutter und Arbeitnehmerin zugleich. Aber Frauen können in Deutschland selbstbestimmt leben. Mit klassischen Rollenbildern werden sowohl Frauen als auch Männer hierzulande konfrontiert, aber das Grundgesetz bildet ein klares Fundament für individuelle Konzepte: Frauen und Männer sind als Menschen gleichwertig und haben gleiche Rechte und Pflichten als Bürgerinnen und Bürger. Alles Vorgetragene wird übersetzt, das erfordert viel Geduld von Teilnehmenden wie Ausführenden, bis schließlich auch Cumar aus Somalia für die afrikanischen Frauen übersetzt hat.
Die Teilnehmenden diskutieren engagiert, jede kann etwas beitragen. Fadime unterbricht angeregtes Diskutieren und bittet um Wortmeldungen, die mit allen geteilt werden.
Eine Frau aus dem Iran erzählt, dass Frauen heutzutage im Iran nicht die gleichen Rechte besitzen wie Männer. Insbesondere die religiösen Vorschriften des Islam würden es Frauen nicht leicht machen – bei einer Scheidung, bei der Versorgung der Kinder, im Beruf oder Studium. „Frauen sind das zweite Geschlecht.“ Eine Frau aus Somalia erzählt, dass ein Mann bei ihnen vier Frauen haben kann. Eine andere afrikanische Frau wirft ein, „bei uns sogar sieben Frauen“. Für diese Aussage erntet sie glatt Applaus, die Frauen lachen einander an, sie kennen dieses Schicksal und nehmen es heute mit Humor. „Lieben tut er nur eine“, sagt eine ältere arabisch sprechende Dame, die in dem ganzen Geschehen etwas verloren wirkt. Eine Frau aus Nigeria stellt klar, dass zwischen Gesetz und Tradition unterschieden werden muss. Bei ihnen sei gesetzlich nur eine Ehe möglich, das Modell der Vielehe gebe es aber weiterhin in den Köpfen vieler Männer.
Gemeinsam werden Modelle des Zusammenlebens in Deutschland besprochen. Neben der klassischen Ehe zwischen Mann und Frau leben viele junge Menschen unverheiratet zusammen.Außerdem gibt es Patchworkfamilien und eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften. Auch Alleinerziehende können nach einer gescheiterten Beziehung ohne Partner leben. Samuel erklärt, „wenn du eine alleinerziehende Mutter bist, ist das nicht das Ende der Welt.“
Fadime fasst das Gesagte zusammen: „Respekt ist das Schlüsselelement. In Deutschland gibt es viele Freiheiten – du kannst dich frei bewegen, dich kleiden, wie du magst, essen, was du magst etc. Aber das Recht des Einzelnen endet dort, wo das des anderen beginnt – jegliche Form von Diskriminierung ist in Deutschland verboten.“
Beispiele und Diskussion
Dieser Aufklärung zu den grundlegenden Rechten des Zusammenlebens folgen Einblicke in deutsche Gepflogenheiten. Nawar ist siebenfache Mutter und war Englischlehrerin in Syrien,
heute ist sie eine der Übersetzerinnen.Sie erklärt: „Wir möchten ein Teil der Gesellschaft werden, Respekt setzt Kenntnis voraus: Wie kann ich mich respektvoll verhalten, welche Regeln sollte ich beachten?“ Deutsche Selbstverständlichkeiten sind für die Teilnehmenden neu. „Wir haben uns bereits informiert, wie man in Deutschland lebt“, sagen Nawar, Cumar und Felicia aus dem Iran einstimmig, aber „hier verstehen wir, was wichtig ist, z. B., dass nach 22 Uhr Nachtruhe ist, dass Hunde und Katzen als Haustiere eine besondere Stellung haben und wie respektvolles Verhalten in Deutschland konkret aussieht.“ Samuel erklärt ein weiteres Beispiel: „Ja, wir Afrikaner leben nach der afrikanischen Zeit, die flexibel ist. Ich musste mich auch daran gewöhnen, pünktlich zu sein. Heute trage ich eine Armbanduhr.“ Demonstrativ hält er sein Handgelenk in Richtung der Teilnehmenden, an dem ausgerechnet heute die Uhr fehlt! „Aber im Ernst, für Deutsche ist Pünktlichkeit ein Ausdruck von Respekt. Wenn ihr euch mal verspätet, weil ihr den Bus verpasst habt oder warum auch immer, ist das nicht weiter schlimm. Nehmt das Handy in die Hand und gebt kurz Bescheid, dass ihr nicht pünktlich sein werdet. Dann ist alles in Ordnung.“
Nawar ist überzeugt: „Es braucht einen zivilisierten Austausch über verschiedene Themen in der Gesellschaft. Selbstverständlich sind für unsgewisse Dinge gewöhnungsbedürftig, z. B. die sichtbar engen Freundschaften zwischen Mann und Frau oder das Verhältnis zu Haustieren. Meinungen und Verhalten dürfen unterschiedlich sein und bleiben, wesentlich ist die Achtung voreinander. Der Grundsatz der Demokratie, den ich so sehr mag, lautet: Die Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt.“
Der „WERTvolle Raum“ ist ein Projekt der Malteser Werke, das mit Unterstützung von „Aktion Deutschland hilft“ seit November 2016 in derzeit fünf Einrichtungen umgesetzt wird. In fünf Modulen sind wesentliche Kenntnisse zu Rechten und Pflichten, Organisation und kulturellen Gepflogenheiten in Deutschland aufbereitet, die in Gesprächskreisen gemeinsam mit Geflüchteten besprochen werden. Ziel ist, dass sich Geflüchtete in die deutsche Gesellschaft integrieren können, indem sie das dafür notwendige Kulturwissen vermittelt bekommen, das Erwartungen, Vorstellungen und Bedürfnisse für sie offenlegt. Geflüchtete erlernen damit Alltagsregeln, die ihnen Orientierung bieten und Konfliktpotenzial verringern.