Der schon Monate andauernde Konflikt, initiiert und befeuert durch die Führung in Minsk, hat bereits mehrere Menschenleben gefordert. Zuletzt hat sich die Lage zwar insofern geändert, dass die Mehrheit der Flüchtlinge nicht mehr unmittelbar am Grenzzaun und damit im Freien ausharren muss. Tausende hatten unter unmenschlichen Bedingungen entlang des Stacheldrahts vergeblich auf eine Öffnung gewartet - und mitunter versucht, die Absperrung zu durchbrechen. Letztlich dienen sie Alexander Lukaschenko dazu, Druck auf die EU auszuüben, die den Diktator mit Wirtschaftssanktionen von seinem Unterdrückungskurs gegen die eigene Bevölkerung abbringen will.
Als Schnee und Kälte unerbittlich wurden, brachten die Sicherheitskräfte die Flüchtlinge unter anderem in ein Hochregallager. Auch dort ist die Lage untragbar. Zu der Angst, wieder hinaus in den Winter geschickt zu werden oder ein Flugzeug in Richtung Herkunftsland besteigen zu müssen, kommt die körperliche Erschöpfung. Die Europäische Union wirft dem Regime Lukaschenko „organisierte und politisch motivierte Instrumentalisierung von Menschen“ vor. „Diese zynische Strategie, mit der schutzbedürftige Menschen ausgebeutet werden, ist ein verabscheuungswürdiger Versuch, die Aufmerksamkeit von der anhaltenden Missachtung des Völkerrechts, der Grundfreiheiten und der Menschenrechte durch das Regime in Belarus abzulenken“, sagt Josep Borrell, Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik. Die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser kritisiert: „Lukaschenko nutzt die Notlage der Menschen aus, um Politik nach innen zu machen. Das ist skandalös und menschenverachtend.“
"Auf den osteuropäischen Winter nicht vorbereitet"
Hinter den Menschen, um die es geht, liegen Tage, manchmal auch Wochen des Campierens bei Kälte und Nässe. „Sie kamen oftmals mit dünner Kleidung und leichtem Schuhwerk per Flugzeug aus Syrien oder dem Irak. Auf den osteuropäischen Winter waren sie nicht vorbereitet und mussten erst mit passender Kleidung versorgt werden.“ Das berichtet Michael Daemen, Koordinator für die Zusammenarbeit mit Belarus bei den Maltesern Deutschland.
Er kennt das frühere Weißrussland seit Jahrzehnten und verfügt über ein Netzwerk im gesamten Land. Ein unschätzbarer Vorteil in dieser unübersichtlichen und permanent wechselnden Lage. Selbst vor Ort war er zuletzt im Oktober 2021. „Aufgrund der verhängten Sanktionen ist es inzwischen leider schwierig, nach Belarus zu reisen“, bedauert er. Durch häufige Telefonate oder Video-Calls sei er dennoch immer auf dem neuesten Stand. Mit den Partnerinnen und Partnern auf belarussischer Seite tauscht er sich auf Deutsch oder Englisch aus, oder es hilft ein dazu geschalteter Dolmetscher. Durch diese Kontakte war er beispielsweise schon früh darüber informiert, dass sich Flüchtlinge nicht nur an der polnischen Grenze den Zugang zur Europäischen Union erhoffen. „Auch an den Grenzen zu Litauen und Lettland harren Menschen aus. Das ist in der Öffentlichkeit nur nicht so präsent.“
In jedem Fall gehe es darum, die Menschen in Not mit dem Nötigsten zu versorgen. Traditionell besonders eng sind die Kontakte zur Caritas in Belarus. Über diesen Partner leisten die Malteser, die selbst nicht in Belarus vertreten sind, schon seit vielen Jahren Hilfe vor Ort. Die Kooperation ist eingespielt und hat sich vielfach bewährt. „Daher bestand für uns auch kein Anlass, in der aktuellen Situation eigene Strukturen aus dem Boden zu stampfen“, sagt Michael Daemen.
Lebensmittel für Flüchtlinge
Die Caritas der Diözese Grodno, gelegen im Dreiländereck mit Polen und Litauen, ist derzeit mit rund 20 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer und zehn angestellten Mitarbeitenden unterwegs. Sie organisieren die Hilfe und verteilen in den provisorischen Unterkünften Lebensmittel an die rund 2.000 Flüchtlinge, darunter viele Frauen und Kinder. „Bis zu 800 Tüten mit Fertigsuppen, Brot, Fisch- und anderen Konserven, Babynahrung und Milch sind es pro Anlieferung“, erklärt Michael Daemen. In den Kirchen rufe die Caritas zudem zu Kleiderspenden auf.
Die Malteser unterstützen diese Aktionen finanziell. Eigene Hilfstransporte von Deutschland aus zu organisieren, hätte wenig Sinn. „Die Speditionen verweisen zurecht auf die mehrtägigen Standzeiten an der Grenze. Allein dadurch kämen tausende Euro für einen Transport zusammen“, weiß der Malteser-Referatsleiter. „Dieses Geld investieren wir lieber direkt vor Ort.“ Dafür meldet ihm die Caritas den jeweiligen Bedarf. „Die Kolleginnen und Kollegen wissen am besten, was gerade besonders dringend benötigt wird. Wir überweisen also kein Geld ins Blaue hinein.“ Da nicht absehbar ist, wann sich die Lage wieder entspannt, geht die humanitäre Hilfe weiter und rufen die Malteser in Deutschland zu Spenden auf.
Überlebenskampf auch für Einheimische
Eines ist der Hilfsorganisation dabei besonders wichtig: „Gemeinsam mit der Caritas Belarus werden wir auch weiterhin die einheimische Bevölkerung im Grenzgebiet unterstützen“, betont Michael Daemen. Gerade in den ländlichen Randgebieten, abseits der Metropolen wie Minsk, leben viele alte und alleinstehende Menschen sowie kinderreiche Familien in bitterer Not „Es sind die Ärmsten der Armen, die wir nicht vergessen dürfen.“ Auch für sie sei der Winter ein Überlebenskampf. „Die Caritas kümmert sich um solche Hilfsbedürftigen und versorgt sie mit Lebensmitteln und Holzscheiten.“
Auch nachhaltige Hilfe wird geleistet. Zusammen mit der Caritas Österreich, dem katholischen Osteuropa-Hilfswerk Renovabis und weiteren Organisationen haben die Malteser im Sommer ein Projekt für die ländliche Bevölkerung ins Leben gerufen. Die Menschen bekommen unter anderem Küken, Ferkel und Obstbäume geschenkt, um sich zumindest teilweise selbst versorgen zu können und eine kleine wirtschaftliche Grundlage zu haben.
Nach Ansicht des Referatsleiters trägt Unterstützung dieser Art auch dazu bei, mögliche Spannungen zwischen der wirtschaftlich gebeutelten Bevölkerung und den Flüchtlingen zu verhindern oder zumindest zu entschärfen. „Die eine Gruppe darf nicht gegen die andere ausgespielt werden. Alle Bedürftigen haben Unterstützung verdient“, sagt Michael Daemen. Die Lage im Land ist desaströs. „Die Wirtschaft ist eingebrochen, die Preise steigen und steigen.“ Wer kann, verlässt seine Heimat, um den Repressionen des Staatsapparates zu entgehen.
Hilfsbereitschaft trotz eigener Notlage
Dass trotz der eigenen Notlage Hilfsbereitschaft gegenüber den Geflüchteten vorhanden ist, zeigt das Beispiel der kirchlichen Spendenaufrufe. „Die katholischen Bischöfe fordern zur aktiven Nächstenliebe auf. Und die Menschen geben Geld und Kleidung“, so Michael Daemen. Im westlichen Teil von Belarus, der an Polen grenzt, ist der Katholiken-Anteil vergleichsweise hoch. „Geholfen wird aber natürlich allen Menschen, gleich welcher Religion oder Konfession sie angehören.“
Die Malteser im Offizialatsbezirk Oldenburg, dem Michael Daemen aus Vechta angehört, haben eine besonders lange und enge Beziehung zu Belarus. Sie ist aus Hilfstransporten nach Litauen entstanden und besteht seit inzwischen mehr als 20 Jahren. Michael Daemens erster Transport fuhr im Jahr 2005 von Niedersachsen in Richtung Minsk. Wie oft er seitdem im Land war, vermag er schon gar nicht mehr zu sagen. Wie alle Helferinnen und Helfer hoffe er auf ein baldiges Ende der menschenverachtenden Situation in der Grenzregion. Doch er weiß auch: „Eine Lösung kann allein die Politik herbeiführen.“
Achtung Redaktion:
Michael Daemen, Koordinator für die Zusammenarbeit mit Belarus, steht für Interviews und O-Töne zur Verfügung.
Fotos zum Download finden Sie hier: https://malteser.eyebase.com/view/pinEYSQuZMC
Die Malteser rufen dringend zu Spenden für die Betroffenen auf:
Malteser Hilfsdienst e.V.
IBAN: DE 1037 0601 2012 0120 0012
S.W.I.F.T.: GENODED 1PA7
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