Inklusion in der Katastrophenvorsorge: Im Ernstfall barrierearm


Inklusion bei Katastrophen: Es gibt Nachholbedarf

Menschen mit Behinderungen und/oder Beeinträchtigung sind im Katastrophenfall besonders gefährdet, da sie oft erschwerten Zugang zu Warnungen, Evakuierungen und Schutzräumen haben. Deshalb ist ein barrierefreier Katastrophenschutz besonders wichtig. Doch bei der Katastrophenvorsorge besteht in unserem gesellschaftlichen System noch Nachholbedarf in Sachen Inklusion von Menschen mit Behinderung und/oder Beeinträchtigung. Katastrophenfälle in der Vergangenheit, wie das Hochwasser 2021, haben diese Defizite drastisch deutlich gemacht. Bei dem verheerenden Hochwasser im Ahrtal kamen unter anderem in einer Wohneinrichtung der Lebenshilfe Ahrweiler zwölf Menschen mit Behinderung und/oder Beeinträchtigung ums Leben. Diese Tragödie verdeutlichte auch den dringenden Handlungsbedarf beim barrierefreien Katastrophenschutz und war Anlass für eine Studie zu diesem Themenkomplex.

Notrufe und Infos sind im Ernstfall oft nicht barrierefrei

Menschen mit Behinderung und/oder Beeinträchtigung haben schon lange darauf hingewiesen, dass Notrufe und Informationen zum Katastrophenschutz in vielen Fällen nicht barrierefrei beziehungsweise barrierearm sind, was in Ernstfällen tragische Folgen haben kann. Dabei ist die barrierearme Kommunikation im Krisenfall sogar in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verankert: Deutschland ist seit 2009 verpflichtet, Menschen mit Behinderung und/oder Beeinträchtigung in Gefahrensituationen zu schützen und Barrieren abzubauen. Artikel 11 der UN-BRK verlangt explizit Maßnahmen für barrierefreie Kommunikation. Gemeinsam mit anderen Hilfsorganisationen setzen sich die Malteser für ein einheitliches, integriertes Krisenmanagement ein, das alle gesellschaftlichen Gruppen miteinbezieht.

Katastrophenschutz: Was fordern die Malteser?

Die Hilfsorganisationen betonen in ihren Forderungen an die Politik, dass standardisierte Verfahren, gemeinsame Ausbildungen und regelmäßige Übungen unverzichtbar sind, um auch die Bedarfe vulnerabler Gruppen zu berücksichtigen. Konkret fordern die Malteser die Modernisierung rechtlicher Rahmenbedingungen, damit der Bevölkerungsschutz krisenfester wird. Dazu gehört auch die Entwicklung von Strukturen und Verfahren, die auf die besonderen Bedürfnisse aller Betroffenen eingehen.

Studie untersucht barrierefreie Kommunikation im Krisenfall

Um die Situation von Menschen mit Behinderungen und/oder Beeinträchtigung in Katastrophenfällen in Deutschland erstmals systematisch zu erfassen, ließ die „Aktion Deutschland hilft“ von Oktober 2023 bis Februar 2024 die Studie KIM durchführen. Die Abkürzung steht für „Bestandsaufnahme zum Katastrophenmanagement und der Inklusion von Menschen mit Behinderungen“. Die Studie vom Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen sollte nicht nur Daten, sondern auch Ansatzpunkte liefern, wie Menschen mit Behinderung und/oder Beeinträchtigung im Katastrophenfall besser unterstützt werden können. Ein Ergebnis der Untersuchung: Es mangelt an strategischen und deutschlandweiten Strukturen und Ansätzen, um Menschen mit Behinderungen im Katastrophenfall ausreichend zu berücksichtigen. „Die Studienergebnisse zeigen deutlich, dass Menschen mit Behinderung und/oder Beeinträchtigung im deutschen Katastrophenmanagement weder systematisch mitgedacht werden noch inkludiert sind“, heißt es zusammenfassend.

Wo besteht konkret Handlungsbedarf?

Der Studie zufolge besteht Handlungsbedarf auf allen Ebenen. Zwar habe es in den vergangenen Jahren spürbare Verbesserungen bei der Barrierefreiheit von Warnungen im Katastrophenschutz gegeben, dennoch bleibe der Handlungsbedarf weiterhin hoch. Es gebe demnach immer noch erhebliche Lücken – sie reichen von der barrierefreien Information bis hin zu Evakuierungs- und Schutzmaßnahmen. Und: Sie betreffen nicht nur das Katastrophenmanagement oder den Bevölkerungsschutz, sondern auch soziale Akteurinnen und Akteure wie zum Beispiel Menschenrechts- und Behindertenverbände oder Hilfsorganisationen sowie die Sozialministerien auf Bundes- und Landesebene.

Was ist bei barrierefreien Informationen zu berücksichtigen?

Warnungen und Notfallinformationen (etwa Wetterwarnungen, Evakuierungsanweisungen oder Notrufnummern) sind häufig nicht barrierefrei.

  • Informationen müssen aber für alle zugänglich sein: in leichter Sprache (beziehungsweise in einer für alle Personen vereinfachten und demnach verständlichen Sprache), in Gebärdensprache, mit Screenreader-Kompatibilität oder als taktile, also ertastbare Pläne für Menschen mit Sehbeeinträchtigung oder Erblindung. Zudem können ausreichend Kontrast, Schriftgröße sowie Gestaltungselemente, die wichtige Inhalte vermitteln, dabei unterstützen, Informationen zugänglicher zu machen.
     
  • Auch sogenannte mehrkanalige Warnsysteme sind wichtig. Dabei werden Informationen über verschiedene Kanäle bereitgestellt, da akustische Warnungen (etwa Sirenen oder Lautsprecherdurchsagen) für gehörlose oder schwerhörige Menschen nicht wahrnehmbar sind. So wurden bei der Hochwasserkatastrophe in Dresden 2002 beispielsweise gehörlose Menschen von den Evakuierungs-Maßnahmen nicht erreicht, da sie die Lautsprecherdurchsagen nicht wahrnahmen.

Notwendige Technologien, um alle Menschen zu erreichen

„Cell Broadcast“, ein staatliches Warnsystem, kann zum Beispiel Warnnachrichten direkt an alle Handys in einer Funkzelle schicken und dabei Ton, Vibration und Textanzeige kombinieren, was besonders für Menschen mit Hörbehinderung hilfreich ist. Für Menschen mit Sehbeeinträchtigung sind akustische Warnungen wichtig, für gehörlose Menschen visuelle Signale wie Textanzeigen auf öffentlichen Tafeln oder TV-Laufbändern – leider immer noch kein Standard in Deutschland. Es sollte möglich sein, Notrufe nicht nur telefonisch, sondern auch per App, E-Mail oder SMS abzusetzen. Die Bundesnotruf-App „nora“ ist ein Beispiel, wie Standorte automatisch übermittelt werden können, was besonders für Menschen mit Kommunikations- oder Orientierungsbeeinträchtigungen hilfreich ist.

Wie barrierefrei sind Evakuierungsabläufe?

Die Studie erfasst auch, dass Evakuierungsprozesse oft nicht auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung und/oder Beeinträchtigung abgestimmt sind. Rollstuhltaugliche Fluchtwege, barrierefreie Notausgänge und Orientierungssysteme sind an zu vielen Orten in Deutschland nur unzureichend.

  • Besonders gefährdet sind Menschen mit schweren Mobilitätseinschränkungen, die sich im Katastrophenfall nicht eigenständig in Sicherheit bringen können.
     
  • Für sie gibt es in einigen Einrichtungen sogenannte „Patenregelungen“: Dabei werden ihnen im Vorfeld Personen zugeordnet, die im Notfall bei der Evakuierung helfen.
     
  • Dienstgeber sind gesetzlich verpflichtet, Arbeitsstätten so zu gestalten, dass die Sicherheit von Menschen mit Behinderung und/oder Beeinträchtigung gewährleistet ist. Dazu gehört auch, Arbeitsplätze möglichst im Erdgeschoss einzurichten oder Alternativpläne für die Evakuierung zu entwickeln.

Was ist noch wichtig für Inklusion im Katastrophenschutz?

Es ist laut der Studie „KIM“ entscheidend, auch die Betroffenen selbst mit einzubeziehen:

  • Menschen mit Behinderung und/oder Beeinträchtigung sollten (barrierefreien) Zugang zu Notunterkünften haben. Zudem müssen Helferinnen und Helfer, die sich um Betroffene kümmern, gut geschult werden. Darüber hinaus ist eine grundsätzliche Sensibilisierung auf Ebene der Kommunen und Behörden notwendig.
     
  • Menschen mit Behinderungen und/oder Beeinträchtigung sollten gezielt in Selbstrettung und Katastrophenvorsorge geschult werden. Solche Trainings sind bislang selten auf diese Zielgruppe zugeschnitten. Regelmäßige Evakuierungsübungen in Einrichtungen, in denen Menschen mit Behinderungen leben oder arbeiten, sind wichtig, damit im Ernstfall alle Abläufe bekannt sind.
     
  • Inklusion im Katastrophenschutz bedeutet auch, Menschen mit Behinderungen und ihre Selbstvertretungsorganisationen von Anfang an in die Planung und Umsetzung einzubeziehen. Initiativen wie das Projekt „Nicht-Diskriminierung behinderter Menschen in Gefahrensituationen und humanitären Notlagen“ der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) setzen sich gezielt dafür ein, die Selbsthilfefähigkeit zu stärken und internationale Best-Practice-Beispiele aufzugreifen.

Inklusion bei Katastrophen: Welche Entwicklungen gibt es?

Es gibt der Studie zufolge eine Reihe von Maßnahmen, aber noch ist deren Umsetzung nicht flächendeckend abgeschlossen und Barrierefreiheit im Katastrophenschutz weiterhin nicht deutschlandweit gewährleistet. Die Beteiligung von Betroffenen und die konsequente Umsetzung barrierefreier Kommunikation bleiben zentrale Herausforderungen. Aber: Es gibt neue gesetzliche Vorgaben und Initiativen für barrierefreie Warnsysteme und entsprechende Apps. Digitale Informationsdienste werden zunehmend barrierefrei gestaltet. Auch Informationen rund um den Katastrophenschutz werden verstärkt in Leichter Sprache und Gebärdensprache angeboten. Zudem wurde die Mitarbeit von Menschen mit Behinderung und/oder Beeinträchtigung an der Entwicklung von Warnsystemen ausgebaut.

Was hat sich politisch getan?

Auch politisch rückt das Thema mehr in den Fokus:

  • Ein deutlicher Fortschritt ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), das ab Juni 2025 gilt. Es verpflichtet Anbieter, digitale Produkte und Dienstleistungen – also auch Warn-Apps und Kommunikationsdienste – barrierefrei zu gestalten. Das betrifft insbesondere Telefondienste, Apps und digitale Informationsangebote, die künftig für alle Menschen zugänglich sein müssen.
     
  • 2024 wurde die „Initiative Inklusive Katastrophenvorsorge Baden-Württemberg“ gegründet – ein bundesweit einmaliges Projekt unter Schirmherrschaft des Innenministers. 14 Organisationen arbeiten dabei daran, Maßnahmen im Katastrophenschutz zu entwickeln und Finanzierungsmöglichkeiten zu schaffen.

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