Alltag mit Rollstuhl: Engagement zeigen und Hürden überwinden

Was bedeutet ein Alltag im Rollstuhl wirklich? Unbeweglich, ausgegrenzt und auf andere angewiesen sein? Evi und Michael sitzen beide von Geburt an im Rollstuhl, führen eine Fernbeziehung, arbeiten und engagieren sich nebenbei auch noch politisch.

Darum geht's:


„Man muss da anfangen, wo man lebt“

Michael, Mitte 40, arbeitet vier Tage die Woche bei einem großen Autohersteller, steht morgens um sechs Uhr auf und ist um 18 Uhr wieder zu Hause. Trotzdem findet er Zeit, sich politisch zu engagieren. Der Rollstuhlfahrer kandidiert für die SPD für den Gemeinderat, geht in seiner Freizeit „Klinken putzen“, wie er das nennt. Politische Arbeit an der Basis.

Für „Micha“, wie seine Freunde ihn rufen, ist klar: „Wenn man will, dass unsere Welt barrierefrei wird, dann muss man auch selbst etwas dafür tun.“ Sein Traum: irgendwann einmal im Bundestag sitzen. Aber: „Man muss erst Mal dort anfangen, wo man lebt.“ Deswegen engagiert er sich in den Städten Bruchsal, Heidelberg und Würzburg für Barrierefreiheit und Inklusion – und zwar nicht nur vor Ort, sondern auch im Internet, etwa bei Twitter.

Ohne Hilfe geht es nicht

Jeden zweiten Tag kommt eine Pflegekraft in seine barrierefreie Wohnung in Bruchsal, hilft ihm beim Duschen. Einmal in der Woche bekommt er Unterstützung im Haushalt. „Ich habe Pflegegrad 2“, sagt er, „alles andere muss ich selbst machen“.

Evi dagegen ist auf tägliche Hilfe angewiesen: „Ich erhalte Unterstützung beim Einkaufen, Kochen oder sonstigen alltäglichen Dingen.“ Sie wohnt in Würzburg nur fünf Minuten von ihrem Arbeitsplatz entfernt – der Jugendbildungsstätte Unterfranken. Hier ist die humorvolle Mit-Vierzigerin vier Tage in der Woche – und freitags stehen meist Arzttermine oder ihr Engagement im „Arbeitskreis Barrierefreies Bauen“ an, wo sie die Stadt berät. Ihre Abende hält sie sich oft frei. „Da steht dann Telefonieren mit meinem Freund Micha auf dem Programm.“ Wenn sie ihn treffen will, fährt sie die 170 Kilometer zwischen ihren Wohnorten mit dem Zug - ebenfalls in Begleitung.

Der Auszug von zu Hause war nicht leicht

Sie erinnert sich noch sehr gut, wie schwer es für ihre Familie war, als sie mit 25 von zu Hause auszog. Bis heute braucht sie jeden Tag jemanden, der ihr aus dem Bett hilft und sie auf die Toilette begleitet. „Da sind so viele Dinge, die man organisieren muss.“ Und plötzlich hatten ihre Angehörigen das nicht mehr in der Hand, mussten loslassen. Evi spürte, dass ihr keiner so richtig zutraute, allein zu leben. „Da habe ich die Trotzreaktion eingeschaltet“, sagt sie und man merkt ihr an, dass sie stolz darauf ist, jetzt in ihren vier Wänden, mit den notwendigen Hilfen, klarzukommen. Ihr ist klar, dass ein Zeitpunkt kommen kann, an dem ihr Pflegebedarf größer wird und sie nicht mehr allein wohnen kann. „Bis dahin genieße ich aber jedes Jahr in meiner eigenen Wohnung.“

Der Beruf ist ihnen wichtig – vor allem der Kontakt mit anderen

Die Arbeit im Team, der Kontakt mit Menschen ohne Behinderung ist für das Paar ebenso selbstverständlich wie wichtig. Michael ist der Zusammenhalt der Arbeitskollegen in seinem Job wichtiger als klassischer, beruflicher Erfolg. „Wir sind acht Leute im Team und treffen uns auch privat und feiern Geburtstage“, sagt er, „da gibt es schon eine enge Bindung.“ Eigentlich sei es für ihn Zeit, sich beruflich weiter zu entwickeln. Aber: „Weil man nicht gleich so ein homogenes und nettes Team findet, fällt es auch schwer zu sagen: Ich gehe da jetzt weg.“

Evi bezieht bereits eine Rente und sagt: „Eigentlich müsste ich nicht mehr arbeiten, aber ich kann mir gar nicht vorstellen, zu Hause zu bleiben.“ Denn ihre Arbeit in der Jugendbildungsstätte ist für sie nicht nur irgendein Job. Für Evi ist es entscheidend, dass sie jetzt in einem Betrieb arbeitet, indem sie wirklich gebraucht und nicht nur beschäftigt wird. „Jetzt bin ich wirklich da, wo ich Evi sein und wo ich meine Fähigkeiten einbringen kann, auch wenn ich immer noch nicht viel Geld verdiene.“ Sie betont, dass sie nicht „jeden Cent“ für staatliche Hilfen beantrage. Denn: „Ich möchte selbstständig sein und mir auch schon mal etwas gönnen, wie eine Reise.“

Offen aufeinander zugehen – das ist entscheidend

So haben Evi und Micha im letzten Jahr mit den Maltesern eine Wallfahrt nach Rom gemacht. Ohne die ehrenamtliche Assistenz, das weiß sie, können sich viele Menschen mit Behinderung solche Reisen gar nicht leisten. Sie sagt: „Es ist auch wichtig für uns, dass wir nicht mit Seniorenreisen fahren müssen. Sondern auch junge Leute treffen, mit denen wir auf Augenhöhe sind.“

Deshalb sei es gar nicht zu überschätzen, wenn sich nicht behinderte Menschen hier engagierten, sagt Evi. Hier ließen sich am einfachsten Berührungsängste abbauen und auch Freundschaften schließen. So sei ein ganz anderes Miteinander und Verständnis füreinander möglich. „Es kann ja jedem passieren, dass er durch einen blöden Unfall plötzlich im Rollstuhl sitzt. Deshalb sage ich: Grenzt’ niemanden aus, arbeitet in integrativen Teams und geht offen aufeinander zu.“

#Inklusion

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