Voll in der Pflicht: Young Carer


Wie viele junge Pflegende gibt es in Deutschland?

479.000 Kinder und Jugendliche helfen laut einer Studie der Universität Witten/ Herdecke regelmäßig und in signifikantem Umfang bei der Pflege ihrer chronisch kranken Angehörigen. In jeder deutschen Schulklasse soll rein rechnerisch demnach ein Kind sein, das zu Hause einem schwer kranken Angehörigen hilft und ihn pflegt. Die Dunkelziffer, da sind sich die Expertinnen und Experten einig, dürfte sogar noch höher sein. „Kaum ein pflegendes Kind redet über die zum Teil vielfältigen Tätigkeiten zu Hause, die meisten fürchten sich vor Ausgrenzung und Stigmatisierung“, heißt es in der Studie.

Die Initiative "Young Helping Hands"

Young Helping Hands ist eine 2016 ins Leben gerufene Initiative, die Heranwachsende unterstützt, die sich um erkrankte Familienangehörige kümmern müssen. Die wichtigsten Infos dazu haben wir in diesem Artikel für dich zusammengefasst. Der nachfolgende Link führt zur offiziellen Webseite von Young Helping Hands.

Young Carer werden öffentlich kaum wahrgenommen

„Familien, in denen Kinder intensiv in die Pflege eingebunden sind, scheuen oftmals die Öffentlichkeit aus Angst davor, dass die Familie durch das Eingreifen von Autoritäten (z. B. Jugendämtern) auseinandergerissen wird“, so die Autorinnen und Autoren der Studie. Pflegende Kinder und Jugendliche seien auch aus diesem Grund eine „bislang kaum wahrgenommene und verborgene Gruppe“. Problematisch ist auch, dass mit steigendem Unterstützungsbedarf die Not der Familie sogar noch unsichtbarer würde. Ralf Thiel (40) und seine Frau Marion Einsiedler (34) haben den Podcast „Young Care Matters“ gestartet, um genau dieses Thema mehr in den Fokus der Öffentlichkeit zu bringen. „Innerhalb der Familien kommt es zu einer Rollenverschiebung. Das idealtypische Bild einer Kindheit, das viele haben, entspricht nicht mehr der Realität“, sagt Ralf Thiel, „Die Eltern schämen sich eventuell und leiden unter ihrer Pflegebedürftigkeit.“ Das Kind hingegen übernimmt nicht selten nach und nach immer mehr Aufgaben von Erwachsenen – diesen Prozess bezeichnet man auch als Parentifizierung. Marion Einsiedler ergänzt: „Weitere Faktoren, die zur fehlenden Sichtbarkeit der Young Carer und ihrer Familien beitragen, sind Scham bei den Kindern und Jugendlichen bzw. der Wunsch, die „Familiennormalität“ aufrecht zu erhalten sowie fehlende Sensibilität auf Seiten von Fachkräften etwa in der Schule, im medizinischen Bereich oder bei der Jugendhilfe.“

Junge Pflegende fühlen sich häufig alleingelassen

Es kommt für alle Beteiligten, aber natürlich gerade auch für die Kinder, zu einer körperlichen, finanziellen und emotionalen Überforderung. Auch Marion Einsiedler kümmerte sich schon als sehr junges Mädchen (ab dem zwölften Lebensjahr), um ihre chronisch erkrankten Eltern – und vermisste dabei rückblickend nicht nur die Unterstützung von Erwachsenen und Hilfsinstitutionen schmerzlich, sondern auch den Austausch mit anderen Betroffenen. Sie erinnert sich: „Unterstützung von Verwandten gab es bei uns nur wenig. Das lag sicher auch daran, dass mir unsere Situation als ‚normal‘ vorkam. Ich kannte es ja nicht so viel anders. Deshalb habe ich das so akzeptiert. Wer etwas mehr unterstützte, waren Familien von Schulfreundinnen und -freunden. Sie nahmen mich manchmal mit in den Urlaub oder ich aß bei ihnen auch mal Mittag.“ Aber zu Hause, mit ihrer kranken Mutter, war sie weitestgehend alleine: „Als ich mit vierzehn Jahren nachts den Notarzt für meine Mutter gerufen habe und dann allein in der Wohnung zurückblieb, ohne zu wissen, was nun mit ihr passiert, habe ich mich natürlich schon unglaublich verloren gefühlt.“

Welche Aufgaben übernehmen junge Pflegende?

Kinder und Jugendliche mit Pflegeverantwortung betreuen, unterstützen und helfen ihnen nahestehenden Familienmitgliedern, die aus körperlichen, psychischen oder kognitiven Gründen nicht mehr alleine für sich sorgen können – sei es der Bruder, die Schwester, ein oder sogar beide Elternteile oder die Großeltern.
Die Tätigkeiten, die sie in diesem Zusammenhang übernehmen sind vielfältig. Kinder und Jugendliche

  • betreuen ihre Geschwister,
  • kaufen ein, kochen und putzen,
  • helfen beim Aufstehen oder Treppensteigen,
  • übernehmen pflegerische Tätigkeiten, etwa beim Ankleiden, Waschen und Toilettengang,
  • hören zu und trösten,
  • erledigen Behördengänge, begleiten zu Arztbesuchen, lösen Rezepte ein
  • geben Tabletten oder auch Spritzen und wechseln Verbände,
  • kümmern sich um Rechnungen, die Ämter, Krankenkassen und vieles mehr.

Wie kann sich die Pflege auf Kinder und Jugendliche auswirken?

„Nicht jedes pflegende Kind erfährt durch sein Engagement nachteilige Auswirkungen, doch für manche kann die Pflege zu einer unüberwindbaren Belastung werden“, führen die Expertinnen und Experten der Studie der Universität Witten/ Herdecke aus. Manche Betroffene empfinden einen stärkeren Familienzusammenhalt, sie werden häufig schneller erwachsen, reifen aber auch an den Gegebenheiten und empfinden deshalb auch Stolz. Aber: Da sie zeitlich und emotional stark eingespannt sind und es durch die Familiensituation auch oft zu finanziellen Problemen kommt, ist die natürliche Entwicklung häufig beeinträchtig – Schule, Ausbildung, Hobbys, Freundschaften und soziale Netzwerke kommen oft zu kurz. Das stellt auch das Expertenteam der Studie fest: „Dominiert die Pflege den Alltag der Kinder, drohen nachteilige emotionale, soziale, schulische und körperliche Auswirkungen für ihre gesamte Entwicklung.“ Ralf Thiel erzählt: „Als ich meine Frau kennenlernte, war die Pflege ihrer Eltern ein sehr bestimmender Faktor – erst in ihrem, später auch in unserem Leben. Das hat ihre Jugend massiv geprägt.“

Die eigene Lebensplanung rücke in den Hintergrund – anders als bei gleichaltrigen Freundinnen und Freunden. „Man richtet halt viel nach den Bedürfnissen der Eltern aus“, sagt Marion Einsiedler. „Lässt es der gesundheitliche Zustand der Eltern zu, dass ich in den Urlaub fahre? Wo studiere ich? Wo kann ich in welchem Umfang in den Beruf einsteigen?“ Das seien Fragen gewesen, die sie beschäftigten. „Es gab wenig Raum dafür, Teenager zu sein, auch mal über die Stränge zu schlagen oder zu rebellieren. Es ging eher darum, den Familienalltag irgendwie am Laufen zu halten und so wenig Probleme wie möglich zu verursachen. Die Dreifachbelastung aus Schule/Studium, Arbeit und Pflegeverantwortung war enorm belastend“, erinnert sie sich, „dazu kamen noch die Sorgen um den Gesundheitszustand der Eltern und deren Leid, das mit der Erkrankung einherging, auszuhalten.“ Nicht wenige (ehemalige) Young Carer oder Young Adult Carer entwickelten unter dieser Belastung selbst psychische Erkrankungen wie z. B. Depressionen.

Hilfe für Betroffene

„Wer anderen hilft, braucht manchmal selber Hilfe“ – unter diesem Motto startete das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend das Internetportal Pausentaste. Das Angebot richtet sich an junge Pflegende, gibt wichtige Informationen, zeigt Unterstützungsmöglichkeiten auf und nennt Ansprechpartnerinnen und -partner. Die damalige Bundesfamilienministerin Franziska Giffey betonte: „Diese jungen Menschen verdienen unseren Respekt, aber sie brauchen auch unsere Hilfe. Denn oft fällt ihnen einfach die Decke auf den Kopf. Sie fühlen sich allein gelassen und wissen nicht, mit wem sie reden können. Das Projekt ‚Pausentaste‘ hilft direkt: Anrufen, mailen – da gibt es jemanden, der zuhört. Und darüber reden, das hilft.“

Auch das Berliner Projekt „echt unersetzlich“ berät Young (Adult) Carer und ihre Familien, klärt auf und bietet Unterstützung an – auch zur Sensibilisierung von Fachkräften gibt es Materialien. „Windschatten“ aus Berlin bietet zudem noch Freizeitangebote an. Auf der Homepage heißt es: „WINDSCHATTEN ist wie ein Kinder- und Jugendzentrum, aber nur für euch – für Young Carer.“

Aber auch alle anderen Organisationen, die mit Pflege zu tun haben, sind für Betroffene wichtige Anlaufstellen – wie etwa regionale Pflegedienste – oder auch Hilfsorganisationen wie die Malteser.

Wie kann ich jungen Pflegenden helfen?

„Es ist erschreckend, wie häufig junge Pflegende allein Verantwortung tragen müssen, die kaum zu bewältigen ist“, hat Ralf Thiel beobachtet. Deshalb ist es seiner Frau und ihm besonders wichtig, die Menschen für das Thema zu sensibilisieren. Der Freundeskreis, die Familie, Lehrerinnen und Lehrer, Vereinsmitglieder – sie alle könnten den jungen Pflegenden helfen. „Denn es gibt Anzeichen. Zwar funktionieren Betroffene häufig besonders gut, aber guckt hin, fragt nach“, appelliert er. Signale, dass Kinder Pflegeverantwortung tragen, könnten sein, dass sie oft weniger Zeit hätten, plötzlich spontan wegmüssten, sich öfter mal krankmelden und allgemein zurückziehen würden. Seine Bitte an die Betroffenen: „Schämt euch nicht, sprecht offen über die Situation und bittet um Hilfe! Sich Unterstützung zu holen, das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern im Gegenteil eines von Stärke.“


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