Ungarn ‘89: Flucht aus der DDR

Die Bilder aus der überfüllten deutschen Botschaft in Ungarn gingen um die Welt – und wurden zum Symbol der Not, aber auch des Mutes und Zusammenhalts. Im Sommer 1989 kamen immer mehr DDR-Bürger in das osteuropäische Nachbarland – angeblich, um dort Urlaub zu machen. Doch in Wahrheit planten sie ihre Flucht in den Westen. Schnell war die Deutsche Botschaft überfüllt, die Situation eskalierte. Bis die Malteser eingriffen, ein Nothilfe-Lager an der Zugliget-Kirche errichteten und die gesamte humanitäre Hilfe organisierten. Bevor Ungarn im September dann die Grenze nach Österreich öffnete, spielten sich dramatische Szenen ab. Zeitzeuge Markus Bank (62) von den Maltesern erinnert sich – an Chaos, Angst und Not, aber auch an den Mut, die Hilfsbereitschaft und die Kraft, die freigesetzt wird, wenn Menschen füreinander da sind.

Darum geht's


Du hast dich im Spätsommer 1989 in Budapest um DDR-Flüchtlinge gekümmert, die über die Grenze nach Westdeutschland fliehen wollten. Wie hast du von dem Flüchtlingslager erfahren?

Als die deutsche Botschaft heillos überfüllt war und geschlossen wurde, gründeten Csilla Freifrau von Boeselager und Pfarrer Imre Kozma von der Zugliget-Kirche spontan das Flüchtlingslager auf dem Gelände der Kirche. Und sie riefen die Malteser Ungarn wieder ins Leben, die vorher verboten waren. Das war eine dramatische Situation im Lager, die logistisch kaum zu bewältigen war. Es kamen tausende Flüchtlinge, die ja alles hinter sich gelassen hatten. Um sich bei ihrer Ausreise aus der DDR glaubwürdig als Ungarn-Urlauber zu tarnen, hatten die meisten kaum Gepäck und nur leichte Sommerkleider dabei. Es fehlte an allem. Die deutschen Malteser sprangen ein – und forderten über den Auslandsdienst ihre Mitglieder auf zu helfen. Ich war seit 1974 ehrenamtlich aktiv und schon einmal mit meinem Bruder bei einem Einsatz in einem Erdbebengebiet in Italien gewesen. Meine ganze Familie, und ich habe sieben Geschwister, hat eine soziale Ader. Für uns war gleich klar: Wir würden helfen. Ich nahm meinen Jahresurlaub, sechs Wochen – und los ging es. Wir fünf Brüder waren ständig im Wechsel in Budapest, auch meine Mutter half vor Ort.

Das Lager war überlaufen. Wie hast du die Zustände erlebt?

Das große Lager an der Kirche platzte aus allen Nähten, es fehlte eigentlich an allem. Da kamen ja ganze Familien mit Babys, Kleinkindern, älteren Menschen. Manchmal wussten wir bis abends nicht, wie wir die vielen Decken für die Nacht organisieren sollen. Es war eine kritische Situation. Die Menschen hatten teilweise schreckliche Dinge erlebt. Sie hatten ihre Angehörigen zurückgelassen, sie waren von Zöllnern in die Irre geleitet worden, teilweise kannten sie Menschen, die bei der Flucht ertrunken waren – und sie hatten Angst…

Wovor hatten die Menschen im Lager damals Angst?

Es wusste keiner, wie es weitergehen würde. Sie hatten Angst vor der Zukunft, davor, dass sie festgenommen und abgeschoben würden. Die Grenze war ja noch nicht offen. Abends verabschiedeten sie sich manchmal: „Wir gehen spazieren.“ Das war wie ein Lösungswort, dann wusste ich, sie würden versuchen, in der Dunkelheit über die grüne Grenze zu kommen. Und ich hoffte für sie, dass es klappte. Aber es war auch immer wieder ein Abschied von Menschen, die mir sehr ans Herz gewachsen waren. Die Menschen hatten so viel auf sich genommen. Viele fürchteten auch Repressalien für sich – und für ihre Familien. Sobald sie in Ungarn waren, schraubten sie die Kennzeichen von ihren Wagen ab, damit niemand wusste, wer sie waren. Und diese Ängste waren real, die Stasi war vor Ort. Vor dem Lager tauchte ein Wohnmobil mit SED-Mitarbeitern auf. Und auf den Hausdächern gegenüber saßen Mitarbeiter, die ins Lager fotografierten und filmten, um die Flüchtlinge zu identifizieren. Das setzte die Menschen sehr unter Druck und schürte auch Aggressionen. Aber auch das war im Lager außergewöhnlich: Die Solidarität. Es war ein Fernsehsender aus dem Westen da. Die bauten einfach ihre Scheinwerfer auf, richteten sie auf die Dächer und blendeten so die Stasi-Mitarbeiter. Dagegen konnten sie nichts ausrichten, plötzlich saßen sie selbst auf dem Präsentierteller.

Die Stasi zug den Kürzeren

Auch der damalige Einsatzleiter Wolfgang Wagner erinnert sich, wie die Stasi mit der Solidarität im Lager zu kämpfen hatte.

Gab es noch mehr solidarische Momente?

Jede Menge, es war bei allem Schrecken und all dem Stress eine wahnsinnig intensive und auch schöne Zeit – es waren einfach die richtigen Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Besonderen Respekt habe ich vor Pfarrer Imre Kozma und Wolfgang Wagner, dem Einsatzleiter der Malteser vor Ort. Sie beruhigten die Menschen, sie motivierten die Helfer, sie waren rund um die Uhr vor Ort. Auch wir Helfer lebten im Lager. Ich hatte mir vor der Abreise neue Halbschuhe gekauft, die waren am Ende durchgelaufen – so viel waren wir unterwegs. Aber wir haben auch so viel bewegen können, das war phantastisch. Wir konnten Menschen, die in Not waren, wirklich helfen. Es entwickelte sich so ein Vertrauen, so viele Menschen, so viele Behörden wie etwa die Botschaft arbeiteten zusammen. Wir waren wie eine große Familie. Und das spürten die Flüchtlinge und vertrauten uns.

Wie drückte sich dieses Vertrauen aus?

Wenn wir mit unserem Auto durch die Stadt fuhren, wie immer auf der Suche nach neuen Hilfsmitteln, sahen wir oft neue Flüchtlinge, die nicht wussten wo sie hin sollten, und die Stasi fürchteten. Sobald wir den Namen des Lagers erwähnten, sobald sie das Malteser Logo auf unserem Wagen sahen, vertrauten sie uns und stiegen ein. Das berührt mich bis heute, wie viele Menschen auf uns gesetzt haben und auf uns angewiesen waren. Das waren teils auch banale Momente, die dennoch so viel bedeuteten. Da war zum Beispiel eine junge Frau im Lager. Sie bat mich um Watte. Erst verstand ich nicht, warum sie jetzt unbedingt Watte brauchte. Dann dämmerte es mir: Wir fuhren los, klapperten Drogerien ab und besorgten alle Hygieneartikel für Frauen, die wir finden konnten. Später gründeten wir dann auch das sogenannte Pampers-Lager.

Was war das Pampers-Lager?

Wir hatten Kleider, Nahrung, Decken, Hygieneartikel für die ganze Familie, alles, was so dringend gebraucht wurde. Aber eben auch spezielle Produkte für Kinder. Die Menschen mussten ja auch beschäftigt werden. Es kamen Lehrer, die hielten Unterricht ab, es gab Zeichenstunden für Kinder und Jugendliche. Ich habe versucht, den Menschen ein möglichst normales Leben zu ermöglichen. 

Es gibt ein Bild aus dem Pampers-Lager, auf dem ein kleines Mädchen auf deinem Arm eingeschlafen ist, offenbar völlig erschöpft. Wie kam es zu diesem Moment?

Die Eltern mussten dringend in die Stadt, Bilder für Pässe machen. Ihr vierjähriges Mädchen wollten sie nicht mitnehmen. Sie baten mich, auf es aufzupassen. Das tat ich – und schon bald schlief die Kleine friedlich auf meinem Arm. Auch das war wieder so ein besonderer Moment, ein Moment des absoluten Vertrauens, an den ich gerne denke.

Gibt es noch mehr Erlebnisse dieser Art?

Ein Porsche-Club aus Deutschland veranstaltete auf dem Hungaro-Ring ein Rennen. Als sie von dem Lager erfuhren, organisierten sie Busse und kamen mit ihren Wagen zu uns. Sie luden Flüchtlinge ein und fuhren mit ihnen zur Rennstrecke. Ein Junge, etwa elf, hatte Geburtstag. Wir backten ihm einen Muffin und nahmen ihn mit zur Rennstrecke. Dieses Leuchten in seinen Augen, das war wahnsinnig, so bewegend. Jeder durfte mitfahren, das war ein ganz besonderer Tag, der wieder einmal zeigte, wie wichtig Zusammenhalt ist. Die ganze Stimmung war sehr emotional. Ich weiß nicht, ob ich danach noch einmal so etwas Schönes erlebt habe. Obwohl: Als die Mauer geöffnet wurde, dieser Jubel, dieses Glück. Da muss man dabei gewesen sein.

Wie stehst du zu der aktuellen Diskussion um Flüchtlinge?

Ich finde, dass jeder Mensch das Recht hat, sich da aufzuhalten, wo er möchte. Vor allem aber ist es meine feste Überzeugung, dass wir die Pflicht haben, anderen Menschen zu helfen – unabhängig von ihrer Religion und Hautfarbe. Es gab schon damals Stimmen, die nicht erfreut waren und sich wegen der Flüchtlinge Sorgen machten. Doch wir sollten nie vergessen, dass wir alle Menschen sind. Ich finde es schade, dass unsere jüngere Vergangenheit bei so vielen in Vergessenheit geraten ist. Die Geschichte sollte noch präsent sein – deshalb freue ich mich, wenn jetzt zum Jahrestag auch junge Menschen damit konfrontiert werden.


#Flüchtlingshilfe

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