Ehrenamt auch mit 86 Jahren: Anpacken im Integrationsdienst

Menschen, die ein Ehrenamt ausüben, schließen eine wichtige Lücke im Sozialsystem unserer Gemeinschaft. In Deutschland engagieren sich rund 31 Millionen Menschen für das gesellschaftliche Gemeinwohl. Jürgen Lucke ist seit knapp 30 Jahren dabei.

Seit Jahrzehnten für die Allgemeinheit aktiv

Seit 1995 ist er im Ruhestand, aber noch lange nicht im Ruhemodus! Soziales Engagement scheint in der DNA des gebürtigen Göttingers verankert zu sein. Schon als Kind lernte er im Elternhaus, wie wichtig es ist, Menschen in Not zu helfen. Seine Eltern gewährten Kriegsflüchtlingen damals Obdach und kümmerten sich um deren Wohl. Im Gespräch wird deutlich, wie prägend diese Erinnerungen für Jürgen Lucke bis heute sind. Er selbst kommentiert seine freiwillige soziale Arbeit auf Portugiesisch mit: „Deus me paga!“ – zu Deutsch: Gott bezahlt mich.

Jürgen Lucke genoss eine humanistische Schulbildung, studierte Bergbau und machte später Karriere als Managing Director in der Industrie. Aus beruflichen Gründen lebte er viele Jahre in Kanada, Brasilien und Griechenland und spricht neben Englisch zwei weitere Fremdsprachen. Diese Lebenserfahrungen sind beste Voraussetzungen für ein Ehrenamt. Vor etwa sechs Jahren hat der Pensionär das Engagement in einer Flüchtlingsnotunterkunft in Berlin aufgenommen.

Wie sind Sie zu ihrem Engagement bei den Maltesern gekommen?

„Ich engagiere mich schon seit über 30 Jahren in verschiedenen Organisationen und bringe mich in verschiedenen Bereichen ein. Vor etwa sechs Jahren lernte ich bei einem Treffen einer Hilfsorganisation eine junge Frau von den Maltesern kennen. Sie erzählte mir von einer Flüchtlingseinrichtung in Berlin, beim ICC-Kongresszentrum, in der sie sich engagierte. Aus baulichen Gründen war der Ort nicht wirklich geeignet und doch wurden dort Hunderte Flüchtlinge untergebracht. In dem Gespräch wurde schnell klar, dass dort noch helfende Hände gebraucht wurden. Sie erzählte mir von den akuten Umständen und lud mich ein vorbeizukommen, um mir selbst ein Bild von der Situation zu machen“, erzählt Jürgen Lucke und betont, wie begeistert er von dem Engagement der jungen Frau war. „Ich folgte der Einladung und übernahm umgehend verschiedene organisatorische Dinge. Unter anderem fuhr ich auch mal einen Mann ins Krankenhaus, der sich ein Bein gebrochen hatte. Jeder beziehungsweise jede hatte zunächst dort angepackt, wo es gerade nötig war und so haben wir uns gemeinsam langsam durchorganisiert!“

Das war der Auftakt beim Integrationsdienst der Malteser, für den Jürgen Lucke bis heute ehrenamtlich tätig ist. Er selbst erklärt sein freiwilliges und spontanes Engagement mit dem Credo einer der Hilfsorganisationen, für die er unter anderem ebenfalls im Einsatz ist: „‚Service above self!‘ Es geht darum, anderen zu helfen, bevor man an sich selbst denkt. Man schaut sich also bewusst um, wo Bedarf ist oder eine Not vorliegt. Und dann schaut man, wo man seine eigenen Fähigkeiten einbringen kann, um den Menschen bei dieser Not oder diesem Bedarf zu helfen!“ In jeder Aussage des Rentners fühlt man die Selbstverständlichkeit seines freiwilligen Engagements voller Mitgefühl, aber frei von Mitleid und jeglicher Erwartungshaltung.

Integrationsdienst bei den Maltesern: Was genau bedeutet das?

„Kurz: Begleitende Unterstützung zur Integration von Migrantinnen und Migranten in unsere Gesellschaft – und dabei geht es nicht nur um die Sprache!“ Jürgen Lucke weiß, wovon er spricht. Er selbst hat aus beruflichen Gründen in verschiedenen Ländern gelebt und musste sich mit seiner Familie jedes Mal neu zurechtfinden. Mit hoher Empathie und großem Verständnis für die Situation von Migrantinnen und Migranten erklärt er: „Ich weiß um die Herausforderungen, sich in einem neuen Land zurechtfinden zu müssen. Der große Unterschied: Ich war beruflich unterwegs und nicht auf der Flucht! Menschen, die vor Krieg oder Armut flüchten, sind nicht aus freien Stücken unterwegs – sie haben oft keine andere Wahl. Diese Menschen sind teils über einen Monat auf der Flucht und wenn man erfährt, was diese Familien auf dem Weg erlebt haben – das ist brutal. Hier in Deutschland sind sie dann zwar in Sicherheit, müssen sich aber an ein völlig neues Leben gewöhnen und das ist auch eine seelische Herausforderung. Die Menschen haben ihr Land, ihr Zuhause, teils Familie oder Freunde und ihre Gewohnheiten hinter sich gelassen. Jedes Land hat seine eigene Kultur, in der man sich als neues Mitglied der Gesellschaft erst einmal sortieren muss. Das ist schwierig. Und ja: Hinzu kommt dann auch noch die neue Sprache.“

Integration ist ein wertvoller Baustein sozialer Gesellschaften

Für eine funktionierende soziale Gemeinschaft ist die Integration aller zugehörigen Mitglieder essenziell. Dieser Baustein erstickt Konfliktpotenzial durch Ausgrenzungen bereits im Keim und schützt in dieser wichtigen Funktion das gesamte System. Als Gesellschaft können wir uns glücklich schätzen, dass es Menschen in unserer Mitte gibt, die sich mit ihrem sozialen Engagement bedingungslos für Integration einbringen.

Wenn auch Sie sich für ein Ehrenamt in der Integrationsarbeit interessieren, lassen Sie sich gern bei den Maltesern beraten. In unserem Artikel „Ehrenamt für Seniorinnen und Senioren“ finden Sie zudem weitere wichtige Informationen zu einem Engagement im Alter.

Wer sind Ihre Integrationspartner und wie unterstützen Sie sie?

„Bei meinem Einsatz in der Flüchtlingsunterkunft wurde mir schnell bewusst, dass ich mit meinen Fähigkeiten gezielter helfen möchte. Die schulpflichtigen Kinder brauchten Unterstützung, da die eigenen Eltern aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht helfen können. Die Kinder sind auf sich allein gestellt!“ In der besagten Notunterkunft wurde ein Raum für die Kinder geschaffen, um ihnen konzentriert bei den Schulaufgaben helfen zu können. Jürgen Lucke freute sich auf die neue Aufgabe: „Ich dachte: Wunderbar, dann fangen wir mal gleich mit Mathe und Englisch an!“ Bekennend lächelnd erzählt er weiter: „Ich merkte schnell, dass ich natürlich eher beim Deutsch helfen musste. Ich fragte sie nach den Aufgaben und Tests, die in der Schule geschrieben wurden, die natürlich wegen der Sprachbarriere schwieriger zu bewältigen waren. Auch für Kinder ist es nicht einfach, mal eben nebenbei eine neue Sprache zu erlernen. Bei den Eltern war [aufgrund der Umstände] keine Hilfe zu erwarten“, erklärt der Pensionär. Er war dennoch hoch motiviert, den jungen Menschen einen Weg in unsere Gesellschaft zu ebnen. „Wenn ich nach den Aufgaben aus der Schule frage, bin ich immer bemüht, nicht zu viel Druck auszuüben, da dieser bereits hoch genug ist. Es ist wichtig, ein Vertrauensverhältnis zu erarbeiten – frei von Zwang, um den Kindern nachhaltig helfen zu können!“

In welcher Sprache kommunizieren Sie zu Beginn mit den Kindern?

„Das ist ganz unterschiedlich und es kommt darauf an, mit welchen schulischen Vorkenntnissen sie nach Deutschland kommen. Die Älteren hatten vielleicht schon Englisch in der Schule, was die anfängliche Verständigung etwas erleichtert. Tatsächlich ist aber Deutsch die Sprache im Integrationsdienst, weil die Kinder unsere Sprache so selbstverständlich wie möglich lernen sollten.“

Wie sehen Sie Ihre Rolle im Integrationsdienst?

„Ich bin weder Coach noch Lehrer“, sagt Jürgen Lucke unmissverständlich und erklärt: „Ich sehe mich eher als Übergangs-Ersatz-Großvater, der einfach da ist und mit offenem Ohr unterstützt! Die Kinder sind so auf sich allein gestellt und ich kann ihnen etwas Orientierung bieten. Wenn ich merke, dass Sie die Unterstützung annehmen und mitmachen, dann bin ich wirklich gern für Sie da!“ Der Altersunterschied ist in der Zusammenarbeit überhaupt kein Thema, wie er berichtet. Gerade bei den Themen Kultur, Politik und Religion ist das vermutlich sogar ein Vorteil für seine Schützlinge: „Ich spreche mit den jungen Menschen über alle Dinge, die sie interessieren und die für sie wichtig sind, damit sie das Leben in unserem Land besser verstehen. Ich wünsche mir nichts mehr, als dass sie ihren ganz eigenen Weg finden und darüber sprechen wir oft.“

Wie viele Kinder und Jugendliche begleiten Sie derzeit im Integrationsdienst?

„In der Notunterkunft hatten wir zunächst kleine Gruppen aus unterschiedlichen Altersstufengemeinsam unterstützt, was nicht immer einfach war. Da loderten auch mal kulturelle Konflikte aufgrund gemischter Gruppen von Jungen und Mädchen. Aktuell begleite ich seit etwa zwei Jahren einen 15-jährigen Jungen, der jetzt in die neunte Klasse geht. Er war mit seiner Familie damals aus Afghanistan geflüchtet.“ Jürgen Lucke erzählt begeistert von dem Jungen, der nur hin und wieder mal daran erinnert werden muss, wie sehr es sich lohnt, fleißig zu sein. Schulische Schwierigkeiten, Schwächen und Lernlücken werden offen besprochen und gemeinsam angegangen. „Ich glaube ganz fest daran, dass er inzwischen angekommen ist und gute Chancen hat, seinen ganz eigenen Weg zu finden. Aber es wird nicht einfach für ihn – das ist es für keines der Flüchtlingskinder. Sie sitzen mit gleichaltrigen deutschen Kindern in einer Klasse und müssen neben unserer schwierigen Sprache Deutsch noch weitere Fremdsprachen wie Englisch oder Französisch lernen. Zu Hause wird nur Afghanisch gesprochen, weil die Eltern kein Deutsch sprechen. Das muss man als junger Mensch alles sortieren können!“ Jürgen Lucke ist zuversichtlich, dass sein Schützling das packt und hat sich vorgenommen, den Jungen noch bis zum Abitur zu begleiten, sofern dieser das wünscht.

Ist der Integrationsdienst trotz Pandemie aktiv?

„Auf jeden Fall, denn die Kinder brauchen gerade in dieser Zeit viel Unterstützung. Seit Anbeginn der Pandemie 2020 haben wir den Integrationsdienst für schulpflichtige Kinder auf die virtuelle Zusammenarbeit umgestellt!“ Jürgen Lucke und sein Schützling haben es geschafft, in regelmäßigem Kontakt zu bleiben. „Nach anfänglich technischer Überwindungen haben wir das gut hinbekommen. Es gibt eigentlich keine festen Termine, wir verabreden uns nach Bedarf und das funktioniert ganz gut! Als Rentner kann ich mir meine Zeit entsprechend einteilen und so für den Jungen da sein, wenn meine Unterstützung gebraucht wird.“ Doch auch im Integrationsdienst ist persönlicher Kontakt nicht wirklich ersetzbar, erzählt Jürgen Lucke: „Einmal haben wir uns zu einem Spaziergang getroffen und das war auch wichtig. Nach so langer Zeit ist auch ein kurzer persönlicher Kontakt ein guter Hebel, die Motivation hochzuhalten. Auf dem Spaziergang (auf Abstand natürlich) haben wir über viele Dinge gesprochen. Ich habe ihn zu seinem Leben befragt, was er mal werden will und wie die aktuelle Situation für ihn ist. Persönlicher Kontakt ist bei dieser Arbeit eben auch wichtig, wenn das in Zeiten der Pandemie auch selten ist. Das Treffen war gut und wichtig für die weitere Zusammenarbeit!“
Jürgen Lucke hat sich mit dem Treffen keinem hohen Risiko ausgesetzt, da er unter anderem bereits vollständig geimpft ist.

Können Sie sagen, wie lange Sie noch ehrenamtlich tätig sein werden?

„Ich denke, dass ich dabeibleibe, solange meine Hilfe gebraucht wird und ich das gesundheitlich kann!“ Vor allem die Arbeit mit den Kindern ist für Jürgen Lucke sinnvoll und macht ihm große Freude, weil er gut mit Kindern kann. Er selbst hat drei Kinder und leider nur fünf Enkelkinder, wie er lachend berichtet. „Gerade bei den Kindern ist die begleitende Integrationsarbeit besonders wichtig, weil sie ein Teil unserer zukünftigen Gesellschaft sein werden. Ich erinnere mich gern an den Satz unserer Kanzlerin ‚Wir schaffen das!‘ und so habe ich das auch verstanden. Sie hat ja nicht gesagt ‚Ich schaffe das!‘, sondern ‚Wir schaffen das!‘, also alle zusammen. Ich bin davon überzeugt, dass wir das hinbekommen, wenn alle ihren Teil dazu beitragen. Also nicht nur meckern und alle vier Jahre wählen gehen, sondern gemeinsam für uns alle etwas einbringen, besonders den Kindern zuliebe. Wenn wir das gemeinsam angehen, dann schaffen wir das, davon bin ich überzeugt!“

Zum Ende des Interviews erklärt Jürgen Lucke sein Engagement im Integrationsdienst mit den Worten: „Ich bin sozusagen der Schuhanzieher!“ Ein schönes Sinnbild dafür, den jungen Menschen in die Schuhe zu helfen, um den eigenen Weg zu finden.


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