Frau Ehm, Trauernde zu begleiten klingt nach einer emotional sehr fordernden Aufgabe. Wie sind Sie zu dieser Arbeit gekommen?
Ich habe schon früh meine Angst vor dem Tod verloren – mein Vater ist gestorben, als ich noch sehr jung war. Ich habe damals erlebt: Das ist schlimm, ja. Aber man überlebt es. Dieses Erlebnis hat mich geprägt. Im Studium habe ich mich dann intensiver mit dem Thema Tod und Trauer auseinandergesetzt. Ich wollte Menschen durch solche Zeiten begleiten und dachte: Da kann ich hilfreich sein. Da kann ich wirklich etwas geben. Gemeinsam mit den Maltesern habe ich dann die „Anlaufstelle für Trauernde“ in Berlin aufgebaut – weil es so etwas damals hier in Berlin gar nicht gab. Wir wollten einen Ort schaffen, an dem Menschen nach einem schweren Verlust Unterstützung finden.
Finden die Erstgespräche zu Hause statt oder kommen die Trauernden zu Ihnen?
Die Trauernden kommen bewusst zu uns – das ist ein zentrales Prinzip unserer Arbeit. Wer sich bei uns meldet, macht damit schon den ersten Schritt auf dem eigenen Trauerweg. Allein der Weg zu uns ist eine bewusste Entscheidung: Ich möchte etwas für mich tun. Ich möchte durch diese Zeit begleitet werden.
Was brauchen Menschen in Trauer am meisten?
Vor allem Verständnis und Zeit. Trauernde befinden sich in einem absoluten Ausnahmezustand. Deshalb hören wir erst einmal ganz genau zu. Wir geben keine schnellen Ratschläge, sondern lassen Raum, damit sich alles zeigen darf, was gerade da ist. Viele erzählen, dass sie sich selbst nicht wiedererkennen. Manche brechen beim Einkaufen in Tränen aus, weil sie das Lieblingsbrot des Verstorbenen im Regal entdecken. Dann kommen Fragen wie: Was ist los mit mir? Ist das normal? Und wir sagen ganz klar: Ja, das ist es. Du bist nicht verrückt – du bist in Trauer.
Welche Rituale können Trauernde stärken?
Das ist sehr individuell, denn jeder Mensch trauert anders. In unseren Einzelgesprächen schauen wir gemeinsam, was dem Einzelnen guttut. Manche tragen eine Kette oder ein Kleidungsstück des Verstorbenen, andere stellen Blumen vor ein Foto oder besuchen regelmäßig das Grab. Das können tägliche Rituale sein, ein Gespräch auf dem Friedhof, eine Kerze, ein bestimmtes Lied. Es geht darum, eine neue Art der Verbundenheit zu finden. Und wir helfen dabei, herauszufinden: Was verbindet mich heute mit dem Menschen, den ich verloren habe?
Wie helfen Sie dabei, zurück ins Leben zu finden?
Trauerbewältigung ist wichtig, weil sonst der Übergang in das veränderte Leben schwerfällt. Gemeinsam suchen wir nach Ressourcen und Kraftquellen. Was gibt Halt? Was erinnert liebevoll? Was gibt wieder Perspektive? Oft ist es schon ein erster Schritt, wenn Menschen erkennen: Ich darf lachen, ich darf Freude empfinden – auch wenn ich trauere. Das eine schließt das andere nicht aus.
Welche Kraftquellen entdecken Trauernde?
Viele finden Halt in der Natur – sie sehen in einem Schmetterling, einem Regenbogen oder einem besonderen Sonnenstrahl ein Zeichen des Verstorbenen. Andere schöpfen Kraft aus sozialen Kontakten, aus Kultur, Bewegung oder Sport. Wir sagen ganz bewusst: Es ist okay, sich auch mal abzulenken. Es ist gesund, zwischendurch eine Pause vom Trauern zu haben.
Welche Themen bringen Menschen besonders häufig mit?
Ganz viele beschäftigen Schuldgefühle. Sie fragen sich: Habe ich genug getan? Warum konnten wir uns nicht mehr versöhnen? Es geht oft um Gefühle, die keinen Platz gefunden haben. Wir geben diesen Gedanken Raum, ohne zu bewerten.
Welche Angebote macht die Traueranlaufstelle der Malteser in Berlin?
Wir bieten ein Erstgespräch an und schauen dann gemeinsam, was gut passt. Manche Menschen möchten lieber Einzelgespräche, andere erleben die Gruppenangebote als sehr stärkend. Wir bieten klassische Trauergruppen, aber auch kreative Formate wie „Trauer und Klöße“ - ein Kochabend für junge Menschen - oder „Trauer und Tango“, wo Bewegung zur Sprache wird. Es geht darum, einen eigenen Zugang zur Trauer zu finden.
Gibt es Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Trauernden?
Die Gefühle sind oft ähnlich, aber die Lebensumstände sind sehr unterschiedlich. Jüngere Menschen trauern häufig zwischen Arbeit, Uni, Familie. Sie suchen gezielt nach Zeiten und Orten, um zu trauern. Ältere Menschen haben oft mehr Zeit, aber manchmal weniger soziale Kontakte. Viele sind einsam, körperlich eingeschränkt und haben nicht mehr viele Menschen, mit denen sie über ihre Trauer sprechen können.
Welche Rolle spielt der Glaube in Ihrer Arbeit?
Unsere Traueranlaufstelle liegt im Südosten Berlins – viele Menschen hier haben keine kirchliche Bindung. Einige sagen überrascht: Ach, ihr seid katholisch? Das ist für viele zweitrangig. Aber bei fast allen ist der Wunsch da, dass „etwas bleibt“. Der Gedanke, dass der Verstorbene ganz weg ist, ist schwer auszuhalten. Wenn jemand gläubig ist, sprechen wir über das, was ihm Hoffnung gibt und manchmal beten wir zusammen. Aber auch ohne Glauben entstehen oft sehr berührende Gespräche darüber, was nach dem Tod sein könnte. Jeder darf für sich ein Hoffnungsbild entwickeln – das ist tröstlich.
Was haben Sie aus 20 Jahren Trauerbegleitung für sich mitgenommen?
Ich habe viele Menschen erlebt, die sehr verzweifelt waren – und ich durfte miterleben, wie es Schritt für Schritt wieder aufwärts ging. Das ist das Schöne an meiner Arbeit: Gemeinsam finden wir Wege, wie Leben wieder gelingen kann.
Vergeht Trauer irgendwann?
Trauer verändert sich. Sie wird leiser, weniger überwältigend. Aber meiner Meinung nach vergeht sie nie ganz – weil der Mensch, den man verloren hat, ja immer ein Teil des eigenen Lebens bleibt. Und es gibt Momente, in denen sie wieder sehr spürbar wird – bei einer Hochzeit, der Geburt eines Kindes, an Feiertagen. Dann kann der Schmerz noch einmal aufbrechen. Aber im besten Fall ist da auch ein Gefühl von Dankbarkeit: Ich hatte diesen Menschen in meinem Leben.
Gibt es etwas, das Sie durch Ihre Arbeit über das Leben gelernt haben?
Ja: Ich mache mir oft bewusst, wie reich ich in meinem Leben beschenkt bin und was mir an Gutem widerfährt. Dafür bin sehr dankbar. Denn durch die Arbeit mit Trauernden weiß ich, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Deshalb versuche ich, bewusster zu leben: nicht im Streit auseinanderzugehen, sich zu verabschieden, sich eine gute Nacht zu wünschen – auch wenn es mal Zoff gab.
Interview: Malteser Berlin/Diana Bade
Benefizkonzert: 20 Jahre Malteser Anlaufstelle für Trauernde
Feiern Sie mit uns 20 Jahre engagierte Trauerbegleitung bei einem besonderen Konzertabend zugunsten unserer Arbeit.
Wann: Freitag, 11. Juli 2025, 19 Uhr
Leitung: Tobias Segsa
Ort: Katholische Kirchengemeinde St. Josef, Lindenstraße 43, 12555 Berlin-Köpenick
Eintritt: frei
Am Ausgang bitten wir um Spenden, damit wir auch in Zukunft für Trauernde da sein können. Wir freuen uns auf Ihr Kommen und Ihre Unterstützung.