Über Generationen

Mit Leib und Seele

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Lena Giovanazzi

Es ist ein warmer Juniabend im Jahr 1988 in Westberlin. Michael Jackson, damals 29 Jahre alt, spielt vor fast 50.000 Fans auf dem Platz der Republik vor dem Reichstagsgebäude. Dahinter verläuft die Mauer, die ein Jahr später fallen wird. Direkt vor der Bühne stehen Barbara und Andreas Stachetzki in Malteseruniform und mit Sanitätstasche – bereit, überhitzte Fans mit Erster Hilfe zu versorgen. Doch neben ihrer Hauptaufgabe interessieren sie sich vor allem füreinander, denn ein Paar sind sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

„Ich war schon ein paar Tage länger dabei als Barbara. Meine jetzige Schwiegermutter war auch bei den Maltesern tätig und brachte irgendwann ihre Tochter mit“, berichtet der heute 59-jährige Andreas. „Und es hat dir Spaß gemacht, mich zu ärgern!“, entgegnet seine Frau Barbara, 58 Jahre alt. „Bei den Einsätzen stand er da und machte auf Mr. Wichtig. Er war mir nicht unbedingt sympathisch, es war keine Liebe auf den ersten Blick. Das hat sich erst später entwickelt.“

An ihre Hochzeit in Berlin-Reinickendorf denken die beiden gern zurück. „Die Rettungswagen säumten den Weg zur Kirche, die Fahnenträger trugen Dienstkleidung. Die gesamte Gemeinde meines Mannes war vor Ort“, erinnert sich Barbara. Hauptberuflich ist Andreas Stachetzki Elektroinstallateur. Nebenbei engagiert er sich seit mittlerweile 40 Jahren beim Malteser Hilfsdienst. Über die Jahre engagierte er sich als Einsatzsanitäter, Ausbilder und Zugführer und war maßgeblich an der Errichtung des neuen Standortes der Gliederung Berlin-Nord beteiligt. Er lernte viele Leute kennen, mit denen er auch gern seine Freizeit verbrachte. „Im Ehrenamt entsteht schnell ein harter Kern aus den Leuten, die immer dabei sind und am Ball bleiben.“

Barbara Stachetzki machte eine Ausbildung zur Kinderpflegerin, dann zur Krankenschwester und schließlich zur Erzieherin. Seit Mitte der 1980er-Jahre engagiert sie sich bei den Maltesern, seit 2009 als Feldköchin im Betreuungsdienst und trat damit in die Fußstapfen ihrer Mutter Brigitta, die selbst schon seit ihrer Jugend beim Hilfsdienst ist. „Ich bin da durch meine Mutter und die örtliche Pfarrgruppe in meiner Heimat Tegel einfach reingewachsen“, erklärt sie.

Engagement über Generationen

Auch zwei ihrer Kinder, die Zwillinge Rebecca und Lucas, engagieren sich schon seit vielen Jahren, obwohl der Funke der Freiwilligenarbeit nicht von Anfang an auf die heute 29-Jährigen übersprang. „Ausschlaggebend war das Helene-Fischer-Konzert im Olympiastadion 2016“, erzählt Rebecca, „da haben wir unsere Einsatzkräfte verpflegt. Seitdem bin ich im Betreuungsdienst tätig und hänge mich voll und ganz rein.“ Auch Lucas erinnert sich, „schon immer irgendwie dabei“ gewesen zu sein. Mit 13 Jahren fing er an, regelmäßig an den Jugendgruppentreffen in Tegel teilzunehmen und beteiligte sich immer mehr an organisatorischen Aufgaben. „Später habe ich mitgeholfen, den Schulsanitätsdienst weiterzuentwickeln. Er wurde sogar zum bundesweiten Best-Practice-Beispiel, weil wir im Unterschied zu anderen Standorten den Schulsanitätsdienst in die Malteser Jugend integriert haben“, berichtet Lucas. Auch der ältere Bruder der beiden, Oliver Stachetzki, war als Kind manchmal dabei, entschied sich jedoch bald für eine Karriere im Tanzsport und die Gründung einer eigenen Familie.

Nach dem jahrelangen Engagement im Sanitätsdienst und als Diösezanjugendsprecher arbeitet Lucas seit Juni als Referent für den Katastrophenschutz und Leiter des Sanitätsdienstes hauptberuflich bei den Maltesern. Seine Aufgaben haben sich dadurch nicht stark verändert, nur habe er jetzt mehr Zeit für seine Leidenschaft und decke eine größere Aufgabenvielfalt ab. „Wir versuchen, die bürokratische, kleinteilige Arbeit auf mich zu verlagern, damit die Ehrenamtlichen sich auf die Aufgaben konzentrieren können, wegen derer sie eigentlich dabei sind“, erklärt Lucas.

Malteser mit Leib und Seele

Als die Kinder auf die Welt kamen, stellte Barbara ihre Bedürfnisse oft zurück, um Andreas sein Engagement bei den Maltesern weiter zu ermöglichen. „Ich konnte früher viele Dienste machen, während Barbara auf die Kinder aufgepasst hat, das wäre ohne ihre Unterstützung mit drei kleinen Kindern nicht möglich gewesen.“ Die Kinderbetreuung sei aber nicht immer freiwillig gewesen, stellen die Zwillinge klar. „Früher war das wohl so, dass Frauen zu Hause geblieben sind“, bemerkt Lucas. „Er ist Malteser mit Leib und Seele. Im Verein bekam er natürlich viel positives Feedback, er wurde gebraucht. Ich musste ihn zwischenzeitlich erinnern, dass wir als Familie ihn auch brauchten“, erzählt Barbara.

Dass den Maltesern ein besonderer Platz in Leben und Alltag zugestanden wird, kennt Barbara Stachetzki jedoch nicht erst seit ihrer Ehe mit Andreas. Schon ihre Mutter war bei den Maltesern aktiv. Sie betreute Menschen mit Behinderung und leistete Sanitätsdienste. Heute würde sie sich noch immer gern bei den Maltesern engagieren, aber die 85-Jährige schaffe es körperlich einfach nicht mehr. „Sie fühlt sich trotzdem noch als Malteserin“, sagt Lucas.

Dranbleiben

Trotz der Familiengeschichte war es Barbara immer wichtig, die Kinder nicht zum Ehrenamt zu drängen: „Ich habe immer versucht, die Eigenständigkeit der Kinder zu fördern. Sie sind nicht verpflichtet, das Hobby ihrer Eltern zu übernehmen. Hätten sie sich gegen die Malteser entschieden, wäre das in Ordnung gewesen“, stellt sie klar. Doch die beiden wollten. „Ich erinnere mich“, so Lucas, „dass unser Vater bei der Loveparade manchmal 18 Stunden aus dem Haus war. Ich glaube, die groben Abläufe waren uns schon relativ früh klar: Da steht was an, das wird geplant, das wird durchgeführt und auch nachbereitet. Was dabei immer mitschwang: Dranbleiben. Wenn man etwas anfängt, macht man es auch zu Ende.“

Diese Devise zieht sich durch die Familie, das starke Durchhaltevermögen verbindet alle Stachetzkis. Die Verpflegung im Betreuungsdienst, das Haupteinsatzgebiet von Rebecca, ist eine zeitintensive Aufgabe. Oft sind sie und das Team morgens die Ersten und abends die Letzten. Wenn sie Pech hat, fängt sie morgens um halb fünf an, die Zutaten im Großhandel einzukaufen, und räumt bis spät in die Nacht die Küche auf. „Es ist körperlich anstrengend, weil man auch schwere Gerätschaften transportieren, gefüllte Töpfe tragen muss. Einige stellen schnell fest, dass sie sich den Verpflegungsdienst anders vorgestellt haben. Es ist ein Unterschied, ob man für vier oder für 500 Köpfe kocht“, weiß sie.

Lucas ging es bei der Wahl seiner Freizeitgestaltung ähnlich wie seinem Vater Andreas. „Der Gemeinschafts­aspekt ist im Ehrenamt ähnlich wie im Sportverein. Nur machen wir keinen Sport, wobei Einsätze beim Katastrophenschutz auch körperlich fordernd sind. Diese Art der Freizeitgestaltung liegt mir persönlich besser.“ Die Sinnhaftigkeit des Ehrenamts spielt bei allen Familienmitgliedern eine wichtige Rolle für den persönlichen Antrieb.

Die familiären Strukturen erleichtern den Stachetzkis auch die Arbeit bei den Maltesern, weil sie als eingeschworenes Team schon viel Erfahrung haben, mit Leichtigkeit gute Konzepte aus dem Ärmel schütteln und Einsätze strukturiert angehen. Doch trotz familiärer Nähe birgt die Zusammenarbeit auch Konfliktpotenzial. Unklare Absprachen, nicht eingehaltene Zeiten oder Befindlichkeiten, die das Einsatzziel überschatten. Gerade als Familie mit ähnlichen Charakteren kann Streit entstehen. „In letzter Zeit gebe ich die Einsatzaufträge, und die anderen drei führen sie aus. Da kommt es schon mal zu Reibereien“, berichtet Lucas. „Die sind in solchen Situationen völlig normal. Es muss vor dem Einsatz eine Diskussion geben, wie wann was gemacht wird, und wir machen nach jedem Einsatz eine Abschlussbesprechung und schaffen alle Probleme aus der Welt“, ergänzt Rebecca.

Differenzen, die bereichern

Ein zentraler Unterschied zwischen Kindern und Eltern ist der Führungsstil. In seiner damaligen Ausbildung wurde Andreas hauptsächlich der autokratische Führungsstil vermittelt, den er im Einsatz noch heute manchmal einsetzt. Dann gibt er klare Ansagen, es wird nicht diskutiert. Lucas erklärt: „Als mein Vater die Ausbildung zum Zugführer gemacht hat, hatte man die verschiedenen Führungsstile noch gar nicht auf dem Schirm, damals gab es nur zwei. Als ich die Ausbildung gemacht habe, habe ich sechs verschiedene Stile gelernt. Wir haben im Vergleich zu früher die Möglichkeit, uns kurzfristig per Chat abzustimmen. Da braucht es diese klare Führung nicht mehr zwangsläufig. Wir können das Einsatzziel anpassen.“ Rebecca wurde auch von Lucas zur Gruppenführerin ausgebildet und beherrscht daher je nach Situation sowohl den autokratischen als auch den kooperativen Führungsstil. „Letztens habe ich bei einem Einsatz gemerkt, dass ein Kollege körperlich nicht mehr konnte. Dann habe ich mich kurz mit ihm zusammengesetzt, ihn nach seiner ehrlichen Einschätzung der Situation gefragt und mit ihm gemeinsam entschieden, dass er den Einsatz beendet. Eine gelebte Fürsorgepflicht, wie sie schon immer bestand. Und dann musste ich eben flexibel sein, die neue Situation annehmen und weitermachen, mit einer Person weniger.“

30 Jahre machen einen großen Unterschied, der neben Diskrepanzen aber vor allem Vorteile für die Stachetzkis bringt. „Ich schätze die neue Perspektive, die meine Kinder in den Verein bringen. Sie haben andere Fähigkeiten als ich. Unser geübter Blick ist auch nicht immer gut“, gibt Andreas zu. „Das sind die Scheuklappen“, lacht Rebecca. „Die Generation unserer Eltern und Großeltern hat morgens früh mit dem Dienst angefangen und abends war Schluss, Punkt. Und ich sage: Ohne das Einsatzziel aus den Augen zu verlieren, wird heutzutage viel sensibler auf die Fähigkeiten und Wünsche eingegangen. Man muss eben mit der Zeit gehen.“

Gerade im Bereich der Digitalisierung schätzt Andreas den Input seiner Zwillinge. Ein Beispiel ist die Einsatztaktik: Zwar bildet Lucas auch noch an der analogen Karte aus, aber es gibt heute mehr Optionen. Die Malteser nutzen Offline-Karten, Online-Karten, eine vergrößerbare Karte auf dem Tablet und GPS. „Wir sind heute breiter aufgestellt und nutzen alles, was wir nutzen können. Darauf müssen sich ältere Einsatzkräfte erst mal einlassen. Die haben dafür andere Qualitäten, und wenn sie nicht verschlossen sind, können sie die neuen Techniken auch erlernen“, so Lucas.

Alles freiwillig

Nicht nur Techniken und Führungsstile, auch das Ehrenamtsverständnis hat sich über die Jahre stark gewandelt. Gab es früher noch die Katastrophenschutzverpflichteten, passiert heute alles freiwillig. Damit müsse eine modernere Aufstellung einhergehen, findet Lucas. Auf Arbeitgeberseite sei man jedoch heute weniger flexibel als früher: Vorgesetzte bestehen auf den Arbeitszeiten, erwarten eher Überstunden. „Wie häufig ich schon mit Arbeitgebern diskutiert habe! Heutzutage musst du minutiös nachweisen, wann du wo was gemacht hast. Früher wurde öfter mal ein Auge zugedrückt, und viele Arbeitgeber haben sich sogar damit geschmückt, dass ihre Angestellten sich nebenbei für einen wichtigen Zweck engagieren“, erinnert sich Andreas. Der Druck im Beruf konkurriere immer wieder einmal mit dem selbst gesetzten Verlässlichkeitsanspruch im Ehrenamt.

Zwar haben Lucas und Rebecca noch keine Kinder, doch die beiden jüngsten von Bruder Oliver, vier und sieben Jahre alt, zeigen erstes Interesse am Malteser Engagement. „Ja, die Kleinen werden hier schon mitsozialisiert“, erzählt Rebecca. „Sie kennen schon die Abläufe und die Statusmeldungen, die im Rettungsdienst üblich sind“, ergänzt Lucas. Für die Zukunft wünscht sich Barbara, dass Ehrenamt und Freizeit sich wieder mehr überschneiden. Vereinsabende und Wochenendfahrten waren früher üblicher, die Leute hatten mehr Zeit. „Das hat den Zusammenhalt gestärkt und Spaß gemacht“, sagt Barbara. „Kommt alles wieder!“, ist sich Lucas sicher.

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