Katastrophenmedizin

Eine neue Behandlungsleitlinie sorgt für mehr Handlungssicherheit im Katastrophenfall

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Dirk Jochmann
Dr. Rainer Löb, Bundesarzt der Malteser, hat bei der Entwicklung der neuen Behandlungsleitlinie mitgewirkt.

Ob Pandemie, Hochwasser, Zugunglück oder Terroranschlag: Bei einem Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten müssen Einsatzkräfte unter großem Stress und bei Mangel an Personal, Zeit und Material entscheiden, wie bei der medizinischen Erstversorgung Betroffener zu verfahren ist. Dafür sollte nun mehr Handlungssicherheit bei Einsatzkräften geschaffen werden. Und darum hat ein Team von Expertinnen und Experten verschiedener Disziplinen der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften seit 2019 im Auftrag des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe eine Behandlungsleitlinie entwickelt. Für die Malteser daran mitgewirkt hat Bundesarzt Dr. Rainer Löb.

Herr Dr. Löb, was unterscheidet eine katastrophenmedizinische von einer individualmedizinischen Behandlungsleitlinie?

Um aus der neuen Leitlinie zu zitieren: „Die adäquate Patientenversorgung bei Großschadensereignissen, Katastrophen- oder Zivilschutzlagen mit teilweise nicht nutzbarer Infrastruktur stellt eine große Herausforderung für alle beteiligten Einsatzkräfte dar. Denn einerseits verfügen die einzelnen Helfergruppen (Ärzte, Rettungsdienstpersonal, Bevölkerungsschutzhelfer) zumeist nur über geringe praktische Erfahrung, sind aber andererseits höchsten emotionalen Belastungen ausgesetzt, da ein Mangel an personellen und materiellen Ressourcen herrscht.“ Der gedankliche und praktische Wechsel von der optimalen Versorgung Einzelner zur (dann „nur“) bestmöglichen Versorgung vieler Betroffener ist ein notwendiger, aber schwieriger Schritt und erfordert je nach konkreter Lage komplexes Denken und Handeln.

Worin liegt, kurz zusammengefasst, der Nutzen der neuen Leitlinie?

Sie bietet größtmögliche Hilfe bei der medizinischen Bewältigung von Großschadenslagen aller Art und darüber hinaus ein interdisziplinär abgestimmtes und bundesweit einheitliches Konzept zur Sicherung der adäquaten medizinischen Versorgung von Verletzten, Erkrankten und Betroffenen.

Warum gab es eigentlich bisher keine entsprechende Leitlinie?

Eine medizinische Leitlinie bedarf immer einer intensiven Literaturrecherche sowie eines Austauschs vieler Experten. Gerade bei einer die Katastrophenmedizin betreffenden Leitlinie, die naturgemäß viele Perspektiven und Erkenntnisse beinhalten muss, ist dies ein sehr zeit- und ressourcenaufwändiger Prozess, daher hat die Fertigstellung auch drei Jahre intensiver Arbeit in Anspruch genommen. Dies konnte letztlich nur mittels eines Auftrags des BBK umgesetzt werden. Darüber hinaus nehmen auch bei uns Situationen, die als „katastrophale Ereignisse“ zu werten sind, zu. Wir sind sehr froh, dass es nun gelungen ist, eine aus meiner Sicht sehr gute Leitlinie zur allgemeinen Verfügung zu stellen.

Es gibt Katastrophen ganz unterschiedlicher Ausprägung. Kann die Leitlinie die vielen denkbaren Einsatzszenarien abdecken?

Ja, da es sich um eine Leitlinie für die medizinische Versorgung handelt. Selbstverständlich mussten aufgrund der Heterogenität der Ereignisse und der entsprechend vielfältigen Auswirkungen auch auf Leib, Seele/Psyche und Leben etliche medizinische Fragestellungen behandelt werden – daher die große Zahl an Mitarbeitenden aus verschiedensten Bereichen. Damit ist es aus meiner Sicht sehr gut gelungen, für die allermeisten Szenarien zutreffende Empfehlungen auszusprechen.

Wie werden diese Empfehlungen nun in die Fläche kommuniziert?

Zunächst einmal kann sie jeder auf der Internetseite www.awmf.org der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften nachlesen. In der Langfassung finden sich auch detaillierte Erläuterungen sowie die bei der Erstellung der Leitlinie zugrunde gelegte Literatur zur Vertiefung. Kommuniziert werden sie über Artikel in Fachpublikationen sowie in Fortbildungsveranstaltungen.


Katastrophenmedizin

„Katastrophenmedizin ist die medizinische Versorgung in Katastrophen oder Großschadensereignissen mit Mangel an Ressourcen (personell und/oder materiell) und nicht nutzbarer Infrastruktur, bei der von der Individualmedizin abgewichen wird, um das bestmögliche Behandlungsziel für die größtmögliche Anzahl von Patient:innen zu erreichen.“

Definition aus der neuen Katastrophenmedizinischen Prähospitalen Behandlungsleitlinie