Im Fokus

Aus dem Tagebuch einer Schulbegleiterin

/

Gutentag Hamburg

Tag 1 – das Kennenlernen 

Das Kind, das ich begleiten werde, soll ein „Knallerkind“ sein. Ein aufgeschlossener Sechsjähriger, der über Tische und Bänke geht. Zuerst wirkt er gar nicht so, als würde er Hilfe brauchen. Doch im Gespräch mit Eltern, Lehrkräften, dem Jugendamt und meiner Chefin bei den Maltesern wird klar, dass meine Aufgaben doch wohl anstrengender werden könnten. Es ist mein zweites Mal in der Schulbegleitung und ich hoffe, dass ich es schaffen werde. Aber ich mag die Schule, die Kollegen und vor allem das Kind jetzt schon. 

Tag 2 – der Wutanfall 

Ich komme an der Schule an. Kurze Einweisung durch die Schulleiterin und die Lehrkräfte, dann nimmt das Chaos seinen Lauf. Das Kind bekommt einen Wutanfall. Er versteckt sich unter Tischen im Flur, schreit, tritt gegen Fenster und Türen. Natürlich komme ich nicht an den Jungen heran. Er kennt mich nicht und wir haben noch keine Beziehung zuein­ander. Das verunsichert mich noch nicht, das war ja zu erwarten. Ich kann nicht mehr tun, als aufzupassen, dass er sich nicht selbst verletzt oder Schuleigentum beschädigt. Jetzt ist klar, wofür ich gebraucht werde. 

Tag 7 – die Zweifel 

Heute sind es wieder zwei Wutanfälle. Beim zweiten ist er durch nichts und niemanden zu beruhigen, muss abgeholt werden. Ich frage mich, ob ich diesem Job wirklich gewachsen bin. Die Selbstzweifel sind stark, aber die Gespräche mit Lehrkräften, Eltern und Kollegen im Team sind hilfreich und stärken mich. 

Tag 20 – die Annäherung 

Ich lerne den Jungen richtig kennen, denke mir Hilfen für ihn aus, tausche mich mit Kollegen und Lehrkräften aus. Die zarten Fäden einer gemein­samen Arbeitsbeziehung werden stärker. Die Wutanfälle reduzieren sich. 

Tag 32 – die Umarmung 

Heute war der schönste Tag. Es gab keinen Wutanfall, nur ein bisschen Murren und Knurren. Als er von seinen Eltern abgeholt wird und ich langsam zum Auto schlendere, dreht er noch einmal um, rennt auf mich  zu und umarmt mich. „Danke, dass du da bist!“ Ich verbeuge mich im Geiste vor allen, die mir geholfen haben und an mich geglaubt haben. Ich habe es geschafft. Er mag mich.  

Tag 33 – die Ernüchterung 

Heute waren es wieder zwei Wutanfälle, begleitet von einem „Ich hasse dich!“. Okay, es ist wohl doch noch nicht ganz so rosig, wie ich gestern dachte, aber die Tendenz stimmt ja dennoch. 

Tag 56 – die Karte 

Weihnachten steht vor der Tür. Von den Lehrkräften bekommen alle Schulbegleiter eine wertschätzende Karte. In meiner werde ich gelobt für meinen Einsatz in der Klasse, dass ich mich dort selbst sehr gut integriert habe und dadurch mein Kind sehr unterstütze. Diese Wertschätzung tut sehr gut. Es geht bergauf. Die Wut­anfälle werden kürzer, seltener und weniger intensiv.  

Tag 250 – das Hoch 

Mein Job macht mir viel Spaß. Die Kinder um mich herum mögen mich, fachsimpeln mit mir über ihre Hobbys, und mein „Knallerkind“ ist froh, wenn ich mich mal nicht so eng um ihn kümmere. Der Junge ist immer weniger auffällig und kann seine Gefühle besser ausdrücken und ist ein beliebtes Kind in der Klasse. Seine Lehrer schätzen seine Ehrlichkeit, seine Mitschüler sein Gerechtigkeitsempfinden. Man kann ihm vertrauen. Ja, er ist ein „Knallerkind“. Aber ich würde sagen – eine Rakete!