Schulbegleitdienst

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Sebastian Lock
Pauls Klassenzimmer hat eine Leseecke. Hier liest er seiner Schulbegleiterin Sara Cramer etwas vor.

Paul will einmal Wissenschaftler werden und seltene Erden erforschen. Er ist ein schlauer, neugieriger Achtjähriger, der gern puzzelt, Pferde liebt und dessen Körper zu wenig der Hormone Dopamin und Noradrenalin produziert. Paul hat ADS, eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Für ihn heißt das: Er nimmt Reize ungefiltert wahr, manchmal überfluten sie ihn regelrecht. Wird alles zu viel, driftet Paul in einen Dämmerzustand, in dem andere kaum zu ihm durchdringen. „Paul ist ein Herz auf zwei Beinen“, sagt seine Mutter Nina Hagen. „Aber es ist auch eine Herausforderung.“ Die Situation kann die Eltern, die Lehrkräfte und Bekannte stressen. Aber am meisten frustriert es Paul. Sein Frust kann zur Wut heranwachsen und in totaler Verweigerung enden. 

Ein Kind, das so tickt wie Paul, kann ohne Unterstützung nicht zur Schule gehen. 2022, Pauls erstes Jahr an der Kundigunden-Grundschule in Bamberg, brachte alle Beteiligten an ihre Grenzen. Seine Mutter war ständig in Alarmbereitschaft, bereit, ihren Sohn abzuholen – weil Paul gerade nicht konnte, wie er sollte, und die Lehrerinnen einfach keine Kapazitäten hatten, neben den fünfundzwanzig anderen Kindern auch auf ihn aufzupassen. In schlechten Zeiten musste Paul so zwei Schultage in der Woche die Schule früher verlassen. „Ich brauche mehr Hilfe, Mama“, sagte er eines Tages auf dem Nachhauseweg zu seiner Mutter.  

Paul hat ein Recht auf Bildung

Wie Paul geht es rund 400.000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Sie sind körperlich, kognitiv oder psychisch beeinträchtigt und brauchen Unterstützung, um zur Schule zu gehen, zu studieren oder eine Ausbildung zu absolvieren. Nach Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention hat jeder Mensch mit Behinderung das Recht auf inklusive Bildung. Laut dem Deutschen Sozialgesetzbuch stehen ihnen dabei Unterstützungen zu – wie etwa eine Schulbegleitung oder eine Studienassistenz.

„Die Not ist groß. Teilweise können die Kinder ohne Begleitung keine Schule besuchen. Unsere Gesellschaft ist einfach noch nicht bereit für gleichberechtigte Teilhabe,“ sagt Katja Hammecke. Sie leitet das Referat des Schulbegleitdienstes (SBD) der Malteser auf Bundesebene. Der Dienst berät Familien und Einrichtungen, unterstützt bei Anträgen und vermittelt passende Begleiterinnen und Begleiter. Die stehen den Kindern und Jugendlichen im Unterricht, auf dem Schulweg, in Pausen oder auf Exkursionen zur Seite, helfen bei der Or­ganisation des Schulalltags, der Inte­gration in die Klasse oder in Krisensituationen.  

Und dann kam Sara Cramer 

Ende 2023 vermittelte der SBD Nürnberg/Bamberg die Schulbegleiterin Sara Cramer an Paul und seine Familie. „Sara war ein Glücksfall für uns, eine Riesenerleichterung“, sagt Nina Hagen. Die beiden Frauen kommen nicht nur super miteinander aus, Sara Cramer hat auch eine spezielle Verbindung zu Paul. Sie hat selber ADHS, eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität.

Menschen mit ADS oder ADHS können ihre Konzentration nur schwer steuern. Bei neuen und interessanten Tätigkeiten sind sie geradezu hyperfokussiert, deshalb gibt es unter ihnen viele kreative und geniale Köpfe. Geht es aber um sich wiederholende, langweilige Aufgaben, können sie kaum bei der Sache bleiben. Viele von ihnen leben mit einem hohen Suchtpotenzial, die Suizidrate im Jugend- und Erwachsenenalter ist hoch.

Ihre ganze Kindheit lang fühlte sich Sara Cramer nicht zugehörig, die Schule fiel ihr schwer. Obwohl sie Abitur machte und studierte, verglich sie sich immer mit anderen, denen anscheinend alles so leichtfiel. „Früher habe ich mich oft sonderbar gefühlt“, erzählt sie. Aber: Neurodivergenz hat nichts mit Intel­ligenz zu tun. Und die Arbeit beim SBD der Malteser gibt der Schulbegleiterin Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten. „Ich werde gesehen und meine Arbeit wird wertgeschätzt“, sagt Sara Cramer. 

Das Poolmodell: Auf der Ostseeinsel Fehmarn arbeitet der SBD in einem Poolsystem, in dem mehrere Kinder in einer Schulklasse durch eine oder mehrere Begleitungen betreut werden können. So werden Kinder mit Behinderungen nicht stigmatisiert, Bewilligungen sind nicht nötig. „Statt einzelner Kinder wird das ganze System Schule befähigt, Kinder mit und ohne Behinderungen zu unterrichten“, sagt Rowena Zabel, Koordinatorin im SBD Team Nord. Weil die Schulbegleitungen einer Schule zugeordnet sind, entstehen dort gut funktionierende Teams, die flexibel auf individuellen Bedarf reagieren können. 

Der Dienst wächst 

Der Schulbegleitdienst ist mit rund zehn Jahren Vergangenheit einer der jüngeren Malteser Dienste und in den zurückliegenden Jahren rasant gewachsen. Aktuell steht er vor der Aufgabe, bundesweit Qualitätsstandards zu etablieren, um den gesetzlich vorgegebenen Anforderungen gerecht zu werden – und zugleich den regionalen Diensten Freiräume zu ermöglichen. Dafür wurde vor fünf Jahren die Stelle von Katja Hammecke geschaffen. „Hoher Kostendruck und die Finanzierung des Dienstes sind neben dem Fachkräftemangel unsere größten Herausforderungen“, sagt sie.  

So ist in Deutschland etwa das ­Jugendamt für junge Menschen mit (drohender) seelischer Behinderung verantwortlich, kognitive oder körperliche Behinderungen dagegen fallen unter die Zuständigkeit der Eingliederungshilfe. Beide Träger wollen ihre Kosten so gering wie möglich halten – gleichzeitig aber steigen die gesetzlich definierten Qualitätsansprüche. „Wir haben aber schon an einigen Schrauben gedreht“, sagt Katja Hammecke. So werde beispielsweise gerade ein bundesweites Qualitätsmanagementsystem eingeführt: „Die herausgearbeiteten Maßnahmen bilden die Basis für einen zukunftsfähigen Schulbegleitdienst.“ 

Immer balancieren

Wenn Sara Cramer mit Paul in der Leseecke der Klasse 2b die neuesten Bücher begutachtet oder Paul auf dem Nachhauseweg die Hand seiner Schulbegleiterin ergreift, dann sieht es aus, als hätte Paul endlich die Hilfe bekommen, die er sich gewünscht hat. Auch Sara Cramer ist zufrieden: „Die Begleiterinnen und Begleiter tragen so viel zu einem selbstbestimmteren Leben der Kinder bei“, sagt sie.

Dabei sind ihre Aufgaben keine einfachen. So ist Sara Cramer etwa nicht dafür verantwortlich, Paul den Unterrichtsstoff beizubringen oder Aufgaben zu bearbeiten. Aber wenn Paul gerade weggedriftet ist, unfähig, auch nur einen Füller zu halten, macht sie trotzdem Notizen. Sie muss sich in die Klasse integrieren und doch im Hintergrund halten. Pauls Vertrauen gewinnen und auch mal streng sein. Ihm so viel helfen wie nötig – und so wenig wie möglich. Sie muss Ansprüche und Erwartungen ausbalancieren. Aber Paul steht für Sara Cramer immer an erster Stelle: „Er weiß, dass ich immer da bin und ihn auffange.“ 


Der Schulbegleitdienst

Schulbegleiterinnen und -begleiter der Malteser unterstützen junge Menschen mit geistiger, körperlicher oder (drohender) seelischer Behinderung in Kindergärten, Schulen, Universitäten oder in Ausbildungseinrichtungen. 

Der erste SBD entstand vor über zehn Jahren, heute sind deutschlandweit mehr als 3.300 Schulbegleitungen der Malteser im Einsatz. Viele haben einen sozialen beruflichen Hintergrund, eine Ausbildung zum Beruf im SBD gibt es aber nicht. 

Starkes Team: Paul und Sara Cramer in der Kunigunden-Grundschule.
Sebastian Lock
Starkes Team: Paul und Sara Cramer in der Kunigunden-Grundschule.
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Nette Abwechslung zu doppelten Konsonanten: Paul malt Hogwarts.
Sebastian Lock
Nette Abwechslung zu doppelten Konsonanten: Paul malt Hogwarts.
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Feierabend! Paul hält viel häufiger als früher ganze Schultage durch.
Sebastian Lock
Feierabend! Paul hält viel häufiger als früher ganze Schultage durch.
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