Interview

Michael Schäfers: „Wir Malteser wollen unseren Beitrag zur Reformierung des Rettungsdienstes leisten und an dessen Gestaltung aktiv mitwirken“

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Lara Hunt
Wie gestaltet sich die Zukunft des Rettungsdienstes aus der Sicht der Malteser? Michael Schäfers, Abteilungsleiter Rettungsdienst, gibt Auskunft.

Im September hat sich die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung in ihrer „Neunten Stellungnahme und Empfehlung“ zur „Reform der Notfall- und Akutversorgung: Rettungsdienst und Finanzierung“ geäußert. Parallel hat eine interne Malteser Expertenkommission Vorschläge für eine Weiterentwicklung des Rettungsdienstes erarbeitet und die Ergebnisse vor Kurzem öffentlich gemacht. Michael Schäfers, Malteser Abteilungsleiter Rettungsdienst, erklärt im Interview die Malteser Vorschläge.

Herr Schäfers, vor einigen Wochen hat die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung ihre Reformvorschläge für die künftige Gestaltung des Rettungsdienstes vorgelegt. Ihr Urteil dazu?

Seit Bestehen sind die Malteser in Deutschland im Rettungsdienst aktiv. In den vergangenen zehn Jahren hat sich das einstige Erfolgsmodell aus verschiedenen Gründen zu einem notleidenden System gewandelt. Der Rettungsdienst in Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Diverse Situationsanalysen und Reformvorschläge liegen vor, die wiederum von verschiedenen Initiativen und Verbänden kommentiert wurden.

Die dem Bundesminister für Gesundheit am 7. September 2023 vorgelegte Stellungnahme der Regierungskommission hat das Potential, die tiefgreifendsten Veränderungen im bundesdeutschen Rettungswesen seit Bestehen auszulösen. Die Empfehlungen sind aus unserer Sicht ernstzunehmende und überwiegend wertvolle Denkanstöße ausgewiesener Expertinnen und Experten für eine umfassende Reform des Rettungsdienstes. Allerdings sind es weder ministerielle Eckpunkte noch eine konkrete Gesetzesvorlage.

Haben Sie auch kritische Anmerkungen zum Papier der Regierungskommission?

Neben dem begrüßenswerten Ziel einer transparenten, qualitativ hochwertigen und bedarfsgerechten patientenzentrierten präklinischen Notfallversorgung nach bundesweit vergleichbaren Standards darf nicht außer Acht gelassen werden, dass auch der Krankentransport eine unverzichtbare Säule des Rettungsdienstes ist und bleiben muss. Insofern ist der Krankentransport in die Reformüberlegungen unbedingt einzubeziehen.

Außerdem bleibt in den Empfehlungen unberücksichtigt, dass der Rettungsdienst aufwuchsfähig sein muss, um größere Schadenslagen und Katastrophenfälle bewältigen zu können. Er ist sowohl integraler Bestandteil der staatlichen Gefahrenabwehr als auch wegen seiner Bedeutung für die Akutversorgung ein Pfeiler des Gesundheitssystems. Rettungsdienst und Katastrophenschutz sind die zwei Seiten derselben Medaille. Dafür werden unter anderem Ehrenamtliche benötigt, die über eine rettungsdienstliche Basisqualifizierung zur Rettungssanitäterin bzw. zum Rettungssanitäter verfügen, wie sie heute besteht. Die Qualifikation als Rettungssanitäterin bzw. Rettungssanitäter ist ebenso gut geeignet für den Einsatz im (qualifizierten) Krankentransport wie zum Beispiel Dienstleistende bzw. Dienstleistender im Freiwilligen Sozialen Jahr oder Bundesfreiwilligendienst. Aus diesen Gründen sehen wir den vorgeschlagenen berufsqualifizierenden Abschluss mit einem Jahr Ausbildungszeit zur Rettungssanitäterin bzw. zum Rettungssanitäter kritisch.

Die Malteser haben nun ebenfalls Vorschläge zur Weiterentwicklung des Rettungsdienstes öffentlich gemacht. Wie kam dieser Zukunftsentwurf für den Rettungsdienst zustande?

Auch uns Malteser belasten Fehlentwicklungen wie der zunehmende Fachkräftemangel bei gleichzeitiger Abwanderung von Mitarbeitenden aus dem System, die sich verstärkende Arbeitsbelastung bei kontinuierlich steigenden Einsatzzahlen und eine nicht flächendeckend kostendeckende Refinanzierung unserer Leistungen. Die gegenwärtige Entwicklung kann so nicht weitergehen.

In Erwartung der Empfehlungen der Regierungskommission hat eine intern eingesetzte Expertenkommission im Auftrag der Geschäftsleitung bereits seit dem Frühjahr dieses Jahres Vorschläge zur Weiterentwicklung des Rettungsdienstes erarbeitet. Wir kommentieren dabei nicht die Empfehlungen der Regierungskommission, sondern legen einen eigenen Zukunftsentwurf vor. Wir Malteser wollen unseren Beitrag zur Reformierung des Rettungsdienstes leisten und an dessen Gestaltung aktiv mitwirken. Wir sind nicht nur zuverlässiger Leistungserbringer, sondern auch Wegbereiter für Innovationen im Rettungsdienst. So sind die Malteser Mitinitiatoren des Gemeindenotfallsanitäter-Dienstes in Deutschland, der in den Empfehlungen der Regierungskommission ausdrücklich Erwähnung findet. Wir wollen unseren Beitrag zur Reformierung des Rettungsdienstes leisten und daran aktiv mitwirken. Wir stehen bereits heute für Qualitätsentwicklung und fordern weitere Verbesserungen. Mit unserer langjährigen Erfahrung als große Rettungsdienst-Organisation wollen wir mit unseren Vorschlägen einen Impuls geben und die Diskussion vorantreiben.

Einer dieser Lösungsvorschläge im Papier der Malteser lautet: eine zentrale Anlaufstelle zu schaffen für alle Hilfeersuchen von Menschen, die sich in ihrer Not an den Rettungsdienst wenden. Wie soll das konkret aussehen?

Heute wenden sich viele Menschen an den Rettungsdienst, denen mit den derzeit verfügbaren Mitteln nicht wirkungsvoll geholfen werden kann.

Wer sich in persönlichen Notlagen an das System wendet, soll aus unserer Sicht in adäquater Zeit die geeignete und angemessene Hilfe erhalten. Der tatsächliche Nutzen für die Hilfesuchenden steht im Fokus unseres Handelns. Ein zentraler Ansatzpunkt für ein zukunftssicheres und leistungsfähiges Netzwerk von optimal abgestimmten Hilfeleistungen der außerklinischen Akutversorgung ist eine zentrale Anlaufstelle für alle Hilfeersuchen, die alle Hilfegesuche steuert und alle Aktivitäten der Fremdhilfe koordiniert. Es wird die jeweils passende Hilfe vermittelt. So werden beispielsweise von dort bei akuter Lebensgefahr Notarzt und Rettungswagen entsandt. Bei weniger schweren Fällen können entweder der hausärztliche Bereitschaftsdienst oder Gemeinde-Notfallsanitäterinnen und -Notfallsanitäter zum Hausbesuch geschickt werden oder ein Pflegedienst benachrichtigt werden. Oder es wird dazu geraten, z. B. den Hausarzt aufzusuchen oder sich an eine soziale Einrichtung zu wenden, die von den Mitarbeitenden der zentralen Anlaufstelle vorinformiert werden, oder es wird ein Termin beim Hausarzt vereinbart. Manchmal reicht im Rahmen einer telefonischen Gesundheitsberatung schon die Hilfe zur Selbsthilfe, indem z. B. dazu geraten wird, die nächste Apotheke aufzusuchen, um sich ein freiverkäufliches Medikament zu besorgen.

Die zentrale Anlaufstelle arbeitet digital und vernetzt, unabhängig von Versorgungssektoren und Verwaltungsgrenzen. Es kommt modernste Technik zum Einsatz, z. B. telemedizinische Kontakte, die den Zugriff auf Smartphones ermöglichen, und mehrsprachige Chatbots. Die Kontakte mit der zentralen Anlaufstelle und die eingeleiteten Maßnahmen werden in der elektronischen Patientenakte dokumentiert, sodass alle an der Versorgung Beteiligten in Echtzeit informiert sind.

Ein wesentlicher Grundsatz in den Vorschlägen der Malteser lautet: „Der richtige Patient zur richtigen Versorgung“. Was ist damit gemeint?

Das Verständnis von der Hilfeleistung im Rettungsdienst ist bisher seriell bzw. linear und endet im Krankenhaus. Die Antwort auf an die Notrufnummer 112 gerichteten Hilfeersuchen beschränkt sich darauf, einen Notarzt, einen Rettungswagen oder einen Krankenwagen zu schicken bzw. einen Rettungshubschrauber zu entsenden. Unter anderem wegen vieler niederschwelliger Hilfeersuchen gibt es immer mehr Einsätze, was reflektorisch zu mehr Einsatzfahrzeugen und folglich zu einem Mehrbedarf an Einsatzkräften führt. Doch solche Fälle als „Bagatelle“ oder „systemfremd“ auszuschließen, wird der Not der Hilfesuchenden nicht gerecht. Wir kennen verschiedenste Beweggründe der Hilfesuche – auch solche, die weder Gesundheit und Leben unmittelbar bedrohen noch den Transport in eine medizinische Einrichtung erfordern. Wir haben derzeit nicht immer die passenden Reaktionsmöglichkeiten auf die Hilfeersuchen der Menschen. Daher stößt das System vielerorts an seine Grenzen oder ist bereits mit der Situation überfordert.

In unserer Vorstellung von einer dynamisierten und anlassbezogenen Rettungskette stehen stattdessen nebeneinander mehrere gleichberechtigte und sich gegebenenfalls unterstützende Versorgungsoptionen bereit, wie z. B. Krankenhausmedizin, Hausarztmedizin, Rettungsdienst, Pflege und Sozialarbeit. An jedem Punkt ab der Entgegennahme des Hilfeersuchens gibt es Ressourcen und Kompetenzen, die eine fallabschließende Hilfeleistung ermöglichen. Alle an der Versorgung beteiligten Einrichtungen arbeiten aktiv, interdisziplinär und interprofessionell in einem Netzwerk an einer patientenorientierten Falllösung. Die Versorgung kann mobil, stationär, ambulant oder telemedizinisch erfolgen. Sie richtet sich ausschließlich nach dem Bedarf der Hilfesuchenden: Wer sich in persönlichen Notlagen an das System wendet, soll nach Überzeugung unserer Expertenkommission in adäquater Zeit die geeignete und angemessene Hilfe erhalten. Alle Angebote müssen 24/7 zur Verfügung stehen.

Dass und warum Personalmangel ein wichtiges Thema im Rettungsdienst ist, hatten Sie im Gespräch im März erläutert. Welche Perspektiven bietet der Malteser Zukunftsentwurf den an der Rettungskette beteiligten Professionen?

Fachkräfte fehlen nicht nur in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, sondern auch im Rettungsdienst. Neben der Gewinnung von Personal ist die Bindung von Fachkräften enorm wichtig. Über Entwicklungsplanungen aufzuzeigende Karrierewege ermöglichen dabei dauerhafte berufliche Perspektiven. Dazu gehören bei Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern sowohl fachliche Entwicklungsmöglichkeiten als auch unter anderem Führungskräfte-Qualifizierungen für Managementaufgaben oder Werdegänge als Lehrkräfte. Auch akademische Karrierewege sind möglich. Eine Angleichung der Ausbildung der medizinischen Fachberufe und die gegenseitige Anerkennung von Ausbildungsabschnitten eröffnet zusätzliche berufliche Entwicklungsperspektiven. Führungskräfte mit Personalverantwortung im Rettungsdienst müssen in Weiterbildungen spezifisch qualifiziert werden.

Damit der Rettungsdienst der Zukunft funktionsfähig ist, dafür können sicher auch wir alle als potenziell Hilfesuchende einen Beitrag leisten. Welche Vorschläge – Stichwort: Gesundheitskompetenzen – hat hier die Malteser Expertenkommission im Blick?

Soziodemographische Veränderungen, Anspruchsverhalten, ein allgemein geringes Gesundheits- und Krankheitsverständnis, verloren gegangene Fähigkeiten und die Bereitschaft zur Selbst- und Fremdhilfe, Vereinzelungstendenzen in der Gesellschaft mit Wegbrechen sozialer Kontakte sowie fehlende Kenntnisse über geeignete Anlaufstellen und niederschwellige Alternativen zum Rettungsdienst für z. B. Alkohol- und Drogenabhängige sind wesentliche Treiber steigender Einsatzzahlen. Erschwerend kommt hinzu, dass Teile der Bevölkerung das deutsche Rettungswesen nicht gut genug kennen und die Vorhaltung paralleler Systeme für die Akutversorgung Verwirrung auslösen. Außerdem fehlt weitgehend eine strukturierte Integration der Bevölkerung in die Notfallversorgung.

In Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Wissenschaft beschreiben wir in unserem Zukunftsentwurf für den Rettungsdienst die Notwendigkeit einer langfristigen Stärkung der Gesundheitskompetenzen in der breiten Bevölkerung. Um dies zu erreichen, bedarf es nach unserer Auffassung an Informationskampagnen zur Förderung des Gesundheitsbewusstseins und an Gesundheitserziehung in der frühkindlichen Bildung sowie später als Schulfach „Gesundheitskunde“ an Grundschulen und weiterführenden Schulen.

Um die ersten, manchmal lebensentscheidenden, Minuten nach Eintritt eines Notfalls zu überbrücken, bedarf es entschlossen eingreifender Ersthelfer. Um die Selbst- und Fremdhilfefähigkeiten in der Bevölkerung zu stärken, benötigen wir neben dauerhaften Informationskampagnen zur Förderung des richtigen Verhaltens in Notfällen, wiederkehrende Ersthelferschulungen an Schulen und am Arbeitsplatz mit festen gesetzlichen Verpflichtungen. Erste Hilfe leisten zu können und zu wollen muss zur Selbstverständlichkeit in unserer Gesellschaft werden.

Außerdem sind differenzierte Präventions- und Beratungsangebote für komplex Vorerkrankte, für ältere, bewegungseingeschränkte Menschen und häufige Nutzer des Systems sowie leicht zugängliche, jederzeit erreichbare Beratungsangebote für krisenhaft zugespitzte Lebenssituationen auf- und auszubauen.

Im Übergang zur professionellen Hilfe müssen organisierte Ersthelfersysteme flächendeckend auf- und ausgebaut, untereinander vernetzt und an die zentralen Anlaufstellen angebunden werden. Über Apps werden registrierte Ersthelfer von der zentralen Anlaufstelle digital alarmiert, wenn sie den Notfallort schnell erreichen können. Um die Ersthelfer auszustatten, muss die Verbreitung öffentlich zugänglicher Defibrillatoren zunehmen. Deren Standort muss in bundesweit einheitlichen Registern erfasst sein und öffentlich abrufbar sein. Bei der Alarmierung bekommen Ersthelfer automatisch einen Hinweis, wo sich der nächste Defibrillator befindet.

Schließlich ist es erforderlich die Bevölkerung in den Bevölkerungsschutz strukturiert einzubinden. Wenn die Regelversorgung unterbrochen ist, müssen mehrere Stunden oder Tage überbrückt werden. Falls keine Regelversorgung mehr möglich sein sollte, sind sogar mehrere Tage bis Wochen zu überwinden. Hier ist der Rückgriff auf weitere Unterstützungskräfte erforderlich. Unter dem Titel „Gesellschaftsdienst im Bevölkerungsschutz“ haben wir Malteser im Jahr 2021 ein Konzept für ein bundesweit einheitliches freiwilliges Dienstformat vorgelegt. Die Teilnehmenden verpflichten sich freiwillig zu einer Dienstleistung in einem vierjährigen Modell, das Phasen der Ausbildung, der Weiterbildung und der ehrenamtlichen Bereitschaft zu Einsätzen und Übungen umfasst. Nach unserer Überzeugung stärkt ein derartiges Format das bürgerschaftliche Engagement und verbessert die Durchhaltefähigkeit im Bevölkerungsschutz. Zudem können Menschen für ein langfristiges ehrenamtliches Engagement gewonnen werden.