Interview

Pavlo Titko: „Ernähren, trösten, eine verlässliche Stütze sein“

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Roksolyana Trush
Pavlo Titko, Leiter der Malteser in der Ukraine, im Februar 2023 während eines Informationsbesuchs von Malteser International in Lwiw

Pavlo Titko, wie geht es Ihnen?

Es ist schwierig, diese Frage eindeutig zu beantworten. Die Situation ändert sich jeden Tag, und wir erleben, dass immer wieder russische Raketen einschlagen, mit vielen betroffenen Menschen. Und in unserem Büro gibt es immer jemanden, der mehr oder weniger in den Krieg verwickelt ist und unterschiedlich auf die Ereignisse reagiert. Manche sind weniger beunruhigt, andere sind aufmerksamer, und wieder andere kommen aufgrund bestimmter Umstände nicht zur Arbeit. Mitte August griffen die Russen die Region Lwiw mit Marschflugkörpern an. Glücklicherweise gab es bei diesem Raketenangriff keine Todesopfer, aber Dutzende von Gebäuden wurden zerstört. Bei einer unserer Mitarbeiterinnen, die eine Wohlfahrtsküche betreibt, wurden Fenster und Türen durch die Druckwelle zerstört. Die allgemeine Belastung der Menschen durch den Krieg nimmt zu, ebenso wie ihre psychische Belastung.

Wie ist die Situation im Land, gibt es aktuell noch eine große Flüchtlingsbewegung?

Leider unerwartet ja. Im letzten Monat (Juli, Anm. d. Red.) wurden täglich 50-60 Menschen von Evakuierungszügen aus den Frontgebieten nach Lwiw gebracht, heute sind es bereits 120. Dies ist auf die Zwangsevakuierung zurückzuführen, da es zu massiven Kämpfen und Beschuss mit schweren Waffen kommt. Es werden Erwachsene, Kinder und Menschen in Rollstühlen evakuiert. Die Menschen nehmen ein Minimum an Sachen mit, sie kommen müde, hungrig und nervös an. Wir sorgen für eine psychologische Stabilisierung, bieten Ihnen Nahrung an, versuchen zu trösten und ihnen eine verlässliche Stütze zu sein.

Worauf konzentriert sich die Hilfe, die Ihr Team den Menschen bieten kann?

Zunächst einmal auf eine groß angelegte psychosoziale Unterstützung. Unser mobiles Zentrum für psychologische Hilfe ist an verschiedenen Orten tätig – in Lwiw, Charkiw und Kiew, in Krankenhäusern, Rehazentren, Notunterkünften. Ein weiteres Ziel unserer Projekte ist die Unterstützung von Rehabilitationszentren, um Menschen, die Gliedmaßen verloren haben, kostenlos mit Prothesen und Behandlungen zu versorgen. In den Regionen Lwiw, Prykarpattia und Zakarpattia sind unsere Spielbusse unterwegs. Teams aus Animateuren, Kunsttherapeuten und Psychologen fahren Notunterkünfte, Schulen, Kindergärten und Waisenhäuser an, um Kinder emotional zu entlasten und zu stabilisieren. Gerade läuft ein Feriencamp, in dem Kinder aus den Frontgebieten und Binnenvertriebene kostenlos und unter guten Bedingungen eine hochwertige Freizeitgestaltung erleben sowie tägliche Einzel- und Gruppenarbeit mit einem Psychologen erhalten – unser Team hat dafür zahlreiche Aktivitäten vorbereitet, von Kunsttherapie über Sportangebote bis zu Koch- und Musikkursen. Darüber hinaus leisten wir weiterhin Hilfe im Osten, unterrichten Binnenvertriebene in Erster Hilfe und leisten humanitäre Hilfe in den Frontgebieten. Derzeit bereiten wir ein Winterprogramm vor, ebenso wie ein Programm zur Unterstützung des Wiederaufbaus zerstörter Gebäude.

Wie ist die Lage in dem Gebiet, das von der Zerstörung des Kakhowka-Staudamms betroffen ist?

Meiner Meinung nach ist sie sehr ungünstig – dieser Akt des Umweltmords droht beispiellose Folgen für die Süd-Ukraine und die gesamte Schwarzmeerregion zu haben. Die Notstandszone umfasst 180 Siedlungen mit 875.000 Menschen. Die Explosion des Kraftwerks hat zu Problemen bei der Wasserversorgung in der Süd-Ukraine geführt, die Menschen verloren ihre Häuser und ihren Lebensunterhalt. Die Zerstörung des Damms hat die Getreideernte beeinträchtigt, was wiederum zu Hunger in der ganzen Welt führt.

In der Ukraine wächst eine Generation von Kindern heran, die durch den Krieg traumatisiert sind.

Unser Betätigungsfeld ist hier sehr breit. Ein wirksames Instrument ist die Stärkung der Arbeit der Schulen, was wir auch tun: Wir gehen in die Schulen und leisten psychologische Hilfe, unterstützen die Lehrer und unterrichten Erste Hilfe. Kinder brauchen so viele Aktivitäten wie möglich, um ins normale Leben zurückzukehren und die Freude und Unbeschwertheit der Kindheit zu spüren. Kinder sollten nicht vorzeitig die Aufgaben von Erwachsenen übernehmen, sondern nur solche, die für ihr Alter angemessen sind. Stellen Sie sich vor, ein Kind muss wegen des Verlusts der Eltern oder deren Einsatz an der Front kochen oder putzen, aber es ist noch jung und muss dies in normalen Zeiten fünf bis sieben Jahre später tun, Aufgrund der jetzigen Umstände beginnt es sich schneller wie ein Erwachsener zu fühlen. Dies stört die normale Entwicklung. Wir sehen aber auch, dass die Situation für Kinder weiterhin schwierig sein wird. Vor Beginn des neuen Schuljahrs sind die Schulen gezwungen, ihre Fenster mit Sandsäcken zu füllen, um sich vor Explosionen zu schützen.

Wie sieht es mit der Versorgung aus?

Es ist klar, dass die Energieinfrastruktur erneut unter Beschuss geraten wird, also alles, was unsere Lebensgrundlage sichert: Strom, Wasser und Gas. Deshalb sind Generatoren, Solarzellen, Power Stations und andere alternative Energiequellen nach wie vor sehr wichtig. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Malteser im Rahmen des Winterprogramms mit Hilfe internationaler Partner mehr als 500 Generatoren unterschiedlicher Leistung für die Frontregionen und frontnahen Regionen der Ukraine bereitgestellt haben. Dabei handelte es sich sowohl um Geräte mit geringer Leistung für den Haushaltsbedarf als auch um leistungsstarke Generatoren, die den Betrieb von sozialen und kommunalen Einrichtungen sicherstellten. Der Rettungsdienst erhielt außerdem eine Solaranlage als humanitäre Hilfe, um auch in Zeiten von Stromausfällen ununterbrochen arbeiten zu können.

Nun steht der nächste Winter bald vor der Tür. Wie können die Menschen in Deutschland und die Malteser Freunde helfen?

In erster Linie brauchen wir finanzielle Unterstützung, zum Beispiel, um Lebensmittel für die binnenvertriebenen und evakuierten Menschen zu kaufen. Angesichts ihrer steigenden Zahl müssen wir unsere Wohlfahrtsküche ausbauen. Leider leidet die West-Ukraine aufgrund der Binnenvertriebenen und Evakuierten unter einer Reihe sozialer Probleme, weil die meisten Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen im Westen der Ukraine bleiben und junge Menschen in Scharen ins Ausland gehen. Auch der Bedarf an Prothetik und Rehabilitation ist enorm. Es gibt eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die schwer verletzt sind. Ein Rehabilitationsprogramm und Integrationsmaßnahmen in den Gemeinden werden für diese Menschen von großer Bedeutung sein.

Ein Ende des Krieges scheint nicht in Sicht zu sein …

Leider ist dieser Marathon noch nicht vorbei, er wird sich wahrscheinlich noch länger hinziehen. Wir sehen, dass es immer mehr Kriegsopfer in der Gesellschaft gibt – Menschen mit schweren körperlichen und psychischen Verletzungen. Die Wirtschaft ist teilweise zerstört, und das wirkt sich unmittelbar auf das Funktionieren der Gesellschaft und das Wohlergehen der Menschen im Land aus. Nur eine systematische, ununterbrochene und auf Jahre hinaus geplante Hilfe wird in dieser Situation eine wirksame Lösung sein. Und es ist wichtig, dass diese Hilfe von erfahrenen Fachleuten geleistet wird.


So helfen die Malteser in der Ukraine seit Kriegsbeginn*

  • 6.725 Tonnen Hilfsgüter in 71 Städten bereitgestellt
  • 723.500 Mahlzeiten für Menschen auf der Flucht
  • 25.000 traumatisierte Menschen psychosozial unterstützt
  • 8.185 Kinder erhielten psychologische Hilfe im Rahmen des Spielmobil-Projekts
  • 7 Sommercamps für insgesamt 256 geflüchtete Kinder
  • 1.000 reparierte Häuser in der Region Charkiw, 232 ersetzte Fenster in Saporischschja sowie 575 Generatoren in den Frontregionen im Rahmen der Winterhilfe 2022
  • 23.860 Ausbildungen in Erster Hilfe
  • 157 Prothesen für Menschen mit amputierten Gliedmaßen

* Zahlen Stand Anfang August 2023