Rettungsdienst

Trainieren für den Ernstfall: Zwischen falschem Vogelgezwitscher und lebensgroßen High-Tech-Puppen

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Chiara Bellamoli
Im SIM-Zentrum trainiert der Rettungsdienst für den Ernstfall. Die Simulationen sollen so realitätsnah wie möglich sein.

Der Mann, der am frühen Abend bei der Notrufzentrale in Stuttgart anruft, ist außer sich: Er sei beim Arbeiten im Weinberg von der Leiter gestürzt und habe sich schwer verletzt, schreit er ins Telefon. Genauere Informationen kann er nicht geben; Schmerzen und Aufregung sind einfach zu groß. Ein Fall mit vielen Unbekannten für Matthias Hiel, Benjamin Bruder und Marius Gaube. Die beiden Notfallsanitäter und Gaube, der noch in der Ausbildung ist, packen schnell und konzentriert ihre Ausrüstung zusammen und machen sich auf den Weg. Unterwegs verteilt Matthias Hiel schon einmal grob die zu erwartenden Aufgaben. „Antizipieren und vorausplanen“ heißt die Devise, damit am Einsatzort alles ganz schnell gehen kann. Wie wichtig das ist, zeigt sich, als die Rettungsdienstler den Verletzten im dunklen Weinberg finden. Beim Sturz von der Leiter hat der Mann sich den Unterschenkel mit der Kettensäge abgetrennt und viel Blut verloren. Er hat große Schmerzen, Angst und erhebliche Atemprobleme. Es dauert nur wenige Minuten, bis die drei Malteser die Blutung gestillt, die Sauerstoffversorgung sichergestellt und den Patienten beruhigt haben. Kurz bevor sie ihn auf die Trage heben, ertönt eine Stimme aus dem Off: „Gut gemacht, ihr könnt jetzt aufhören.“

Wer die Trainingsräume des SIM-Zentrums betritt, wähnt sich in einem deutschen Durchschnittswohnzimmer

Statt im Weinberg befinden sich Matthias Hiel, Marius Gaube und Benjamin Bruder im 5. Stock eines Bürogebäudes in Stuttgart-Wangen. Der dramatische Einsatz war eine Simulation im SIM-Zentrum für Simulation und Patientensicherheit des Malteser Rettungsdienstes Bezirk Stuttgart. Hier können Fachkräfte der Notfallmedizin unter sehr realistischen Bedingungen verschiedenste Einsätze trainie­ren. „Wir haben das SIM-Zentrum vor zehn Jahren ins Leben gerufen und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt“, sagt Joachim Fässler, Geschäftsführer im Rettungsdienstbezirk Stuttgart. „Die hochprofessionellen Fortbildungen, die wir hier anbieten, sind nicht nur für unsere eigenen Malteser Mitarbeitenden, sondern auch für zahlreiche externe Fachkräfte von Hilfsorganisationen und Kliniken ein großer Gewinn. Damit leisten wir einen wesentlichen Beitrag, um die Qualität der Patientenversorgung sicherzustellen und weiter zu verbessern.“

Wer die Trainingsräume des SIM-Zentrums betritt, wähnt sich in einem deutschen Durchschnittswohnzimmer mit anschließendem Garten. Eine Couchgarnitur mit Tisch, eine Schrankwand, Bilder und Regale an den Wänden. In einer Ecke steht ein Pflegebett; zwei Teppiche schmücken den Boden. Im Gartenzimmer, das beim heutigen Training als Weinberg fungiert, bedecken Birkenstämme und täuschend echt aussehende Efeuranken aus Plastik die Wände. Verschiedene Gartengeräte und eine Grünschnitttonne vervollständigen den Outdoor-Look. Aus einem unsichtbaren Lautsprecher dringt Vogelgezwitscher. Alle Fenster sind verkleidet, damit die Trainingsteilnehmenden nicht von äußeren Einflüssen abgelenkt werden.

Bei Bedarf ziehen Rauch- und Nebelschwaden durch die Zimmer

„Wir verändern die Räume je nach Trainingsszenario, damit die Rettungssituation möglichst realistisch ist“, schildert Sebastian Spinnler. Er ist einer von insgesamt 13 Instruktoren – alle selbst erfahrene Notfallsanitäter –, die am SIM arbeiten. „Dabei setzen wir unterschiedliche Requisiten ein, machen aus dem aufgeräumten Wohnzimmer auch mal eine Messie-Wohnung, ein Pflegezimmer oder einen dunklen Keller.“ Temperatur, Licht, Geräusche und Gerüche lassen sich ebenfalls anpassen. Und bei Bedarf ziehen sogar Rauch- und Nebelschwaden durch die Zimmer. Nicht zuletzt sind da die Simulatoren: lebensgroße High-Tech-Puppen, die je nach Ausführung atmen, einen Herzschlag haben, Bewegungen ausführen und ihre Gesichtsfarbe ändern können. Mit ihnen lassen sich überzeugend verschiedene Erkrankungen und Verletzungen darstellen – zum Beispiel eine stark blutende Amputationswunde nach einem Unfall mit der Kettensäge.

Gesteuert wird die gesamte Technik vom Kontrollraum aus. Heute sitzen Sebastian Spinnler und Michael Schrempf vor den zahlreichen Reglern und Monitoren. Die beiden Instruktoren haben sich das Weinberg-Szenario ausgedacht und Ziele für die Übung definiert. Unter anderem sollen die Teilnehmer die Blutung mit einem Tourniquet stillen, eine Thoraxverletzung erkennen und behandeln, miteinander und mit dem Verletzten richtig kommunizieren und eine zügige Schmerztherapie einleiten. Auf ihren Bildschirmen verfolgen Sebastian Spinnler und Michael Schrempf, was sich im Trainingsraum abspielt. Außerdem sehen und kontrollieren sie, welche Vitalwerte des Patienten den Teilnehmern auf deren tragbarem Vitalzeichenmonitor angezeigt werden.

Jedes Training wird genau auf die teilnehmende Gruppe zugeschnitten

Die Instruktoren sind aktiv an der Übung beteiligt. Während Sebastian Spinnler die Raumfaktoren steuert, schlüpft Michael Schrempf in die Rolle des Verletzten. Das bedeutet einerseits, dass er die Vitalwerte des Si­mulators an die Interventionen der Trainingsteilnehmer anpasst. Geben sie dem Verletzten beispielsweise Sauerstoff, um Atembeschwerden zu lindern, ändert Michael Schrempf sofort die entsprechenden Werte und liefert damit die Grundlage für weitere Entscheidungen des Rettungsteams. Daneben leiht er der Simulationspuppe seine Stimme: „Aua, es tut so weh, geben Sie mir doch bitte, bitte was gegen die Schmerzen“, jammert er überzeugend ins Mikrofon und imitiert dabei gekonnt eine schwere Atemnot. Das erhöht die Authentizität der Situation und den Stresslevel der Teilnehmenden – genau wie im richtigen Einsatz.

Jedes Training am SIM wird genau auf die Anforderungen der jeweiligen Trainingsgruppe zugeschnitten. Geht es um Übungen im Rahmen der Ausbildung, berücksichtigen die Instruktoren den aktuellen Lernstand und knüpfen an Themen aus der Schule an. Für Teilnehmende mit viel Berufserfahrung kommen ausgefallenere Szenarien mit höherem Schwierigkeitsgrad zum Einsatz. „Bei Rettungsprofis achten wir vor allem darauf, ob die Kommunikation im Team problemlos läuft, wie das komplexe Fachwissen unter hohem Druck abgerufen werden kann und ob sich gerade durch die lange Erfahrung vielleicht ungünstige Muster eingeschliffen haben“, sagt Sebastian Spinnler. Neben den Trainingsräumen im Bürokomplex steht dem SIM noch ein großes Außengelände zur Verfügung, auf dem schwere Autounfälle, unübersichtliche Situationen mit vielen Verletzten oder Amokläufe simuliert werden können. Nicht zuletzt geht das Zentrum mit seiner Technik auch auf Tour und führt in Kliniken mobile Schockraumtrainings durch.

Ein geschützter Raum, in dem man ohne Angst vor Fehlern schwierige Situationen üben kann

Bei aller Unterschiedlichkeit haben die Fortbildungen Grundlegendes gemeinsam. „Alle Szenarien sind so aufgebaut, dass sie die Teilnehmenden nicht total überfordern, aber doch eine gewisse Fehlerwahrscheinlichkeit besteht“, erläutert Michael Schrempf. „Damit wollen wir niemanden aufs Glatteis führen oder bloßstellen. Es ist einfach so, dass man aus Fehlern am meisten lernt. Ziel ist, dass die Teilnehmenden selbst erkennen, wo es ein Problem gibt, und in der Nachbesprechung mit ihrem Team und uns eige-ne Lösungsmöglichkeiten entwickeln. Diese Selbstreflexion ist wichtig, damit es einen nachhaltigen Lerneffekt für die Praxis gibt.“

Wie und dass dieser Ansatz funktioniert, zeigt sich bei der heutigen Nachbesprechung im hellen Seminarraum des SIM-Zentrums. Auf einem großen Flachbildschirm schauen sich Trainees und Instruktoren die Videoaufzeichnung aus dem Trainingsraum an und diskutieren einzelne Szenen. War das Verhalten hier richtig? Hätte man die Informationen auf dem Vitalzeichenmonitor auch anders interpretieren können? Ging alles schnell genug? Der Ton ist wertschätzend, alle sprechen auf Augenhöhe miteinander. Azubi Marius Gaube, der zum ersten Mal im SIM dabei war, bekommt Lob für seine Leistung. Ihm selbst ist aber ein Problem aufgefallen. „Meine Aufgaben habe ich ganz gut bewältigt. Aber was die Kollegen besprochen und gemacht haben, ist meist an mir vorbeigegangen, weil ich so auf meine eigenen Sachen konzentriert war“, sagt er selbstkritisch. „Daran muss ich noch arbeiten.“

Es sind solche Lerneffekte, die das SIM so wertvoll machen, findet Matthias Hiel. Er hat heute am Training teilgenommen, ist aber auch als Ausbilder und als Instruktor am SIM tätig. „Das SIM ist ein geschützter Raum, in dem man ohne Angst vor Fehlern schwierige Situationen unter sehr realistischen Bedingungen üben kann“, meint er. „Davon profitieren erfahrene Rettungsdienstler wie ich genauso wie Auszubildende – und natürlich vor allem die Patienten.“


Rettungsdienst in Zahlen

Im Kontrollraum haben die Instruktoren Michael Schrempf (links) und Sebastian Spinnler das Trainingsgeschehen im Blick und wirken aktiv mit.
Chiara Bellamoli
Im Kontrollraum haben die Instruktoren Michael Schrempf (links) und Sebastian Spinnler das Trainingsgeschehen im Blick und wirken aktiv mit.
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Marius Gaube (links) ist zum ersten Mal im SIM, Benjamin Bruder hat schon hier trainiert. Seine Erfahrung: „Das Feedback, das man hier bekommt, hilft in der Praxis enorm weiter.“
Chiara Bellamoli
Marius Gaube (links) ist zum ersten Mal im SIM, Benjamin Bruder hat schon hier trainiert. Seine Erfahrung: „Das Feedback, das man hier bekommt, hilft in der Praxis enorm weiter.“
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Das Szenario im Trainingsraum: Ein Mann ist beim Arbeiten am Weinberg von einer Leiter gefallen.
Chiara Bellamoli
Das Szenario im Trainingsraum: Ein Mann ist beim Arbeiten am Weinberg von einer Leiter gefallen.
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Kunstblut in rauen Mengen: Das Szenario wird von den Instruktoren im Vorfeld mit Blick auf die Details vorbereitet.
Chiara Bellamoli
Kunstblut in rauen Mengen: Das Szenario wird von den Instruktoren im Vorfeld mit Blick auf die Details vorbereitet.
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Benjamin Bruder (links) und Matthias Hiel kümmern sich um den Patienten.
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Benjamin Bruder (links) und Matthias Hiel kümmern sich um den Patienten.
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Gibt das Rettungsteam dem Verletzten Sauerstoff, um Atembeschwerden zu lindern, ändert Michael Schrempf sofort die entsprechenden Werte und liefert damit die Grundlage für weitere Entscheidungen.
Chiara Bellamoli
Gibt das Rettungsteam dem Verletzten Sauerstoff, um Atembeschwerden zu lindern, ändert Michael Schrempf sofort die entsprechenden Werte und liefert damit die Grundlage für weitere Entscheidungen.
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Jedes Training am SIM wird genau auf die Anforderungen der jeweiligen Trainingsgruppe zugeschnitten.
Chiara Bellamoli
Jedes Training am SIM wird genau auf die Anforderungen der jeweiligen Trainingsgruppe zugeschnitten.
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Bei der Nachbesprechung werden einzelne Schritte noch einmal genau besprochen.
Chiara Bellamoli
Bei der Nachbesprechung werden einzelne Schritte noch einmal genau besprochen.
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Marius Gaube nach dem Einsatz.
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Marius Gaube nach dem Einsatz.
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