Telemedizin

Starke Verbindung

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Marina Weigl

Notfallsanitäter Yannick Melms hat alles gegeben. Seine Patientin Mina Schlösser liegt vor ihm auf einer Trage, EKG-Elektroden am Körper, am linken Arm eine Blutdruckmanschette. Der rechte ist gebrochen. Sie klagt über große Schmerzen. „Die Fahrt ins Krankenhaus will ich ihr so nicht zumuten“, sagt Yannick Melms. Das Problem: Er hat schon die höchste Dosis an Schmerzmitteln verabreicht, die er verabreichen darf. Noch vor zehn Jahren hätte der Malteser hier in Aachen, wo er lebt und arbeitet, nun eine Notärztin oder einen Notarzt (kurz „NA“) rufen müssen. Zeit wäre vergangen. Das „therapiefreie Intervall“, wie man im Rettungswesen sagt, wäre länger und länger geworden. Warum? Weil Notsanis manche Therapien ohne ärztliche Anordnung und Überwachung nicht anwenden dürfen. Auch die Vergabe von starken Schmerzmitteln wie Fentanyl gehört dazu. Heutzutage haben sie aber auch eine andere Option: „Ich rufe eine Telenotärztin über das Headset an. Die kann sich hier über die Kamera dazuschalten. Ist das okay?“, fragt Yannick Melms und zeigt auf eine kleine Kameralinse an der Decke des Rettungswagens. Seine Patientin nickt und es vergehen keine vier Minuten, da ist Yannick Melms mit der Telenotärztin Hanna Schröder verbunden, hat eine Übergabe gemacht, ein paar Rückfragen beantwortet und das Okay erhalten: Jetzt darf er das Fentanyl verabreichen.

Revolution im Rettungswesen

Telenotärztinnen und -ärzte (kurz „TNA“) unterstützen Rettungskräfte aus der Ferne. Sie stehen per Telefon in Kontakt mit der  Rettungscrew,zusätzlich können sie Videoanrufe, Fotos und Vitaldaten empfangen. Eine Revolution sei das, ein Quantensprung im Rettungswesen titelten Zeitungen, als Aachen im April 2014 als erste deutsche Stadt die Telemedizin einführte. Sie sollte zwei Herausforderungen abmildern, vor denen der Rettungsdienst damals stand und mit denen er auch heute noch kämpft: Zu wenige Menschen nutzen Bereitschaftspraxen oder kennen den Patientenservice, der ständig unter der 116 117 erreichbar ist. Zu viele Menschenwissen sich auch bei eher harmlosen Unregelmäßigkeiten nicht anders zu helfen, als die 112 zu wählen. Die Anzahl der Notfalleinsätze steigt seit Jahrzehnten. Gleichzeitig sind medizinische Fachkräfte eine knappe Ressource. Ist der diensthabende NA aber erst mal zu einem Einsatzort gerufen, steht er für diese Zeit für keinen weiteren Notfall zur Verfügung.

Technik, die verbindet

„Als Telenotärztin kann ich dagegen mehrere Einsätze gleichzeitig betreuen“, sagt Hanna Schröder. Auf einem großen Bildschirm wird ihr das EKG von Mina Schlösser angezeigt, es ist eine Liveübertragung aus dem RTW von Yannick Melms. Daneben das Bild der Deckenkamera: eine 360-Grad-Umsicht, in die Hanna Schröder hineinzoomen kann, bis sie die Schweißperlen auf den Gesichtern der Insassen sehen könnte. Müsste Yannick Melms den RTW verlassen, könnte er jederzeit einen Videoanruf von dem Smartphone starten oder einfach schnell ein Foto schicken.
Die Übertragungseinheit für all das hängt an dem tragbaren Patientenmonitor, an dem auch der Defibrillator und das EKG verbaut sind. Sie heißt „peeq“-Box und enthält drei SIM-Karten für die drei deutschen Mobilfunkanbieter. In den Grenzregionen zu Belgien und den Niederlanden ist natürlich Roaming möglich. „Zur Datenübertragung werden verschiedene Netze gleichzeitig verwendet, so nutzen wir die volle Bandbreite“, erklärt Hanna Schröder. Die Daten werden Ende-zu-Ende verschlüsselt und zerstückelt versendet. Noch während sie über Headset mit dem Rettungsteam verbunden ist, tippt Hanna Schröder alle relevanten Patientendaten in ein Protokoll. Um die neun Minuten dauert ein Gespräch normalerweise. Ist es beendet, schickt Hanna Schröder das Protokoll an den RTW und meldet ihn bei Bedarf in einer Notfallaufnahme an.

Großes Vertrauen, mehr Sicherheit

Im RTW grinst Mina Schlösser jetzt. „Das hast du fein gemacht. Aber kann ich den jetzt abnehmen?“, fragt sieYannick Melms und zeigt auf den Verband an ihrem Unterarm. Die Fraktur, der starke Schmerz, die Fentanyl-Vergabe, alles gespielt, um zu demonstrieren, wie ein TNA-Einsatz ablaufen kann. Die Malteserin ist selbst Rettungssanitäterin und steckt gerade im zweiten Jahr der dreijährigen Ausbildung zur Notfallsanitäterin (kurz „NFS“). Was sie nach der Ausbildung selbstständig umsetzen und verabreichen darf, ist durch das Kompendium des Rettungsdienstes geregelt und unterscheidet sich je nach Kreis oder Stadt. Es gibt Indikationen, die einen anwesenden NA erfordern, etwa Bewusstlosigkeit oder Krampfanfälle. In Aachen sowie den anderen an den Telenotarzt angeschlossenen Rettungsdienstbereichen hat sich der Handlungsspielraum der NFS in den letzten Jahren aber immer mehr erweitert. „Das Vertrauen in die Kompetenz der Notfallsanitäter ist sehr groß“, sagt Hanna Schröder. Das heißt: Sie müssen den TNA seltener anrufen als vor zehn Jahren. Die meisten kontaktieren ihn heutzutage nicht, weil sie müssen,sondern weil sie es wollen. Wer TNA werden möchte, muss mindestens 500 Einsätze als NA gearbeitet haben. Hanna Schröder ist Oberärztin für Anästhesiologie an der Uniklinik der RWTH Aachen und fährt nebenbei auch NA-Einsätze auf der Straße. Als TNA tritt sie ihre Zwölf-Stunden-Dienste in der Hauptwache der Aachener Berufsfeuerwehr an. Die Berufsfeuerwehr ist Trägerin des Rettungsdienstes und betreibt die integrierte Leitstelle der Stadt und Städteregion Aachen. Dort angeschlossen sind neben den 14 RTW der Stadt Aachen auch über 40 RTW anderer Regionen. Alle sind mit einem TNA-System ausgestattet. Die Einsatzkräfte, also etwa die Rettungssanitäter und NFS, werden unter anderem von Hilfsorganisationen besetzt – darunter natürlich auch die Malteser. Sie alle nutzen ein technisches System, das heute durch eine Betreiberfirma bereitgestellt wird, aber ursprünglich in Forschungsprojekten der Uniklinik und RWTH Aachen von 2007 bis 2013 entwickelt wurde. Auch hier ist Hanna Schröder aktiv: Sie ist die stellvertretende Leiterin des Aachener Instituts für Rettungsmedizin und zivile Sicherheit (ARS), das in den letzten Jahren viele Untersuchungen rund um den TNA durchführte. „Damals bei der Einführung gab es auch viel Kritik. Man wolle den Notarzt abschaffen, hieß es“, erinnert sich Hanna Schröder.

"Das Vertrauen in die Kompetenz der Notfallsanitäter ist sehr groß."

Hanna Schröder

Die Zukunft des Rettungsdienstes

Die Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet. Über 50.000 TNA-Einsätze gab es in der Aachener Telenotarztzentrale seit 2014. Die zwei NAs, die in Aachen den regulären 24-Stunden-Dienst besetzen, sind heute häufiger für lebensbedrohliche Einsätze verfügbar, in denen sie dringend gebraucht werden. Das Telenotarztsystem ist in vielen Bundesländern längst etabliert. In anderen Ländern wie Sachsen, Bayern oder Hessen ist es frisch eingeführt oder wird gerade erprobt. Die Telemedizin aus Aachen ist aber nicht nur ein Vorbildmodell. Ihre technische Infrastruktur könnte auch die Basis für ein zukunftsfähiges Rettungswesen bilden. Forschungseinrichtungen wie das ARS arbeiten unter anderem daran, wie künstliche Intelligenz bei der Disposition in Leitstellen unterstützen oder Diagnosen der TNAs verbessern kann. Und es gibt weitere Visionen für die Zukunft
des Rettungswesens. Die lesen Sie auf der rechten Seite.

Einige Meilensteine der Technik in der Geschichte der Malteser

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Yannick Melms ist auch Ortsbeauftragter der Malteser Gliederung Monschauer Land. Über seine Aufgaben hat er mit Moderator Patrick Pöhler in „Retten.Helfen.Reden.“ gesprochen. Zum Malteser Podcast: www.malteser.de/podcast